Am Ball bleiben … geht das?

Meine Auseinandersetzung mit der IndividualSystemik begann vor einigen Jahren. Sie weckte schnell mein Interesse an den großen Fragen unserer menschlichen Existenz. Sie half mir auch in einer schwierigen Trennungszeit, mich selbst besser zu verstehen. Der Entdeckungsprozess meiner Inneren Personen ging in den ersten Jahren recht kontinuierlich und fließend voran. Dann allerdings fiel es mir schwer, am Ball zu bleiben.

Am Anfang lernte ich die Person im vorderen Raum meiner Psyche besser kennen. Wie ich sie im Alltag erlebe, wie sie sich ausdrückt und schon lange in meinem Leben gut für mich und für ein inneres Kind sorgte. Ich nenne sie Frieda. 

Und immer mit dabei ist auch meine zweite Innere Person aus dem vorderen Bereich, direkt hinter Frieda. Diese Person ist kämpferischer Natur und reagiert instinktiv auf die Welt. Sie kann z.B. besser als Frieda ihr „Nein“ einbringen, weil sie sich Urteile erlaubt. Von dieser Stelle aus setze ich mich für meine Werte von Gerechtigkeit ein. Wenn ich aus dieser Person handele kann ich schon mal jemanden vor den Kopf stoßen und auch mein Gegenüber verwirren, denn diese Kämpferin hat eine ganz andere Art, sich auszudrücken als Frieda. Die Kämpferin ist direkt und spricht die Dinge viel forscher an. Es geht ihr mehr um das Erreichen eines Zieles, als darum, dass sich alle versorgt und gesehen fühlen. Je mehr sie voneinander wissen, umso mehr verbessert sich die Kommunikation zwischen ihnen. Ihre Potentiale und ihre Begrenzungen wurden für mich als ganze Person deutlicher und zugänglicher. Denn Frieda und meine Kämpferin sind inzwischen ein gutes Team und ergänzen sich. 

Ausgebremst

In der weiteren Erkundung meiner Innenwelt konnte ich erkennen, dass die kämpferische Frau irgendwie gebremst ist. Sie wird durch etwas oder jemanden zurückgehalten. Durch die Betrachtung meiner Träume entdeckte ich in Begleitung von Veeta Wittemann, dass hinter der kämpferischen Frau noch eine ganz andere Person existiert, die einen großen Einfluss auf sie hat. Sie ist es, die für deren Zurückhaltung verantwortlich ist. Sie trägt die Erfahrung in sich, dass die Wut von Frauen auf Ungerechtigkeit und Willkür in der patriarchalen Welt schon viele Male gegen sie verwendet wurde. 

Bis zu dieser Stelle haben mich die Entdeckungen sehr positiv berührt und die Selbsterkundung war spannend. Es ist wunderbar, in einer Inneren Person erkannt und mit ihrem tieferen Willen gesehen zu werden. 

Unbewusste Willenskräfte

Dann passierte etwas, was für mich als ganze Person kaum wahrzunehmen war. Geriet die Frau hinter der Kämpferin in den Fokus, indem sich jemand von außen im direkten Kontakt auf sie bezog, wurde ich schnell fahrig. Ich vergaß Termine (zum Beispiel für die Abgabe der Traumbearbeitung) oder ich war plötzlich viel zu müde, wenn ich mich meiner Innenwelt zuwenden wollte. Das bremste meinen Prozess fast unmerklich aus. Natürlich wollte ich dabei bleiben, traf mich weiter mit meiner Kleingruppe und fand es immer noch sehr spannend. Allerdings kam ich nicht so richtig weiter. Dieses „auf der Stelle treten“, der „innere Rückzug“, blieb von mir und der Gruppe fast unbemerkt.

Die Ausrichtung in meinem Alltag veränderte sich. Es erschien mir viel wichtiger, mich nicht zu überanstrengen und mir nach der Arbeit Zeit für Regeneration oder für meine neue Liebesbeziehung zu nehmen. Mit etwas Abstand konnte ich feststellen, dass dies meine Aufmerksamkeit von etwas anderem „wegzog“.

Meine Aufzeichnungen hatte ich beiseite gelegt und „vergessen“. Etwas in mir hat gut dafür gesorgt, dass mich dieses Wissen als Ganze nicht mehr berührte. So war es sehr erhellend, als ich sie anderthalb Jahre später wieder – gefühlt zum ersten Mal – zur Hand nahm. So stand in meinen fein abgehefteten Notizen, dass die dritte Frau in dieser Reihe sehr resigniert ist und auch eine schwierige Erfahrung in sich trägt, die sie lieber die meditative Ruhe und Abgeschiedenheit suchen lässt.

Die Herausforderung

Erst heute wird mir dieses Wissen durch Gespräche mit Menschen aus dem dubistviele-Netzwerk und dem Kontakt mit einer Begleiterin wieder zugänglich. Jetzt kann ich für mich feststellen: „Ja, das ist der Grund, warum meine Kämpferin ihr Feuer zügelt und sich nicht mehr kraftvoll einbringt. Das ist der direkte Einfluss der dritten Frau in meinem System.“

Nur durch die Rückmeldung von außen und eine Prozess-Begleitung konnte dieser Zusammenhang (wieder) in mein Bewusstsein gelangen.

Jetzt besteht die Chance, die Resignation dieser Frau wohlwollend zu betrachten und ihren Rückzug wieder bewusster wahrzunehmen. Die Herausforderung wird komplexer. So muss ich mir selbst auf die Schliche kommen, wo sie gerne „den Deckel drauf macht“ und ihren Willen, „in Ruhe gelassen zu werden“ machtvoll durchsetzt.

Am Ball bleiben

In mir gibt es also Anteile, die sogar vor mir als ganze Person ihren Willen gut verbergen können. Mir ist klar geworden, dass ich, um tiefer gehen zu können, die Einbindung in die Gemeinschaft brauche, und dass ich das Bewusstsein für jede einzelne Innere Person in mir weiterentwickeln muss. 

Die Energie, die diesen Prozess vorantreibt, ist der tiefe Wunsch, ein Teil dieser Welt zu sein und bezogen in dieser Welt leben zu können. Es ist die Sehnsucht nach dem, was unseren Kontakt lebendig und authentisch werden lässt.

Schreibe einen Kommentar