„Ausflug Innenwelt“ – eine Abenteuerreise

Würdest du für ein Wochenende in eine fremde Stadt fahren, die etwa 800 km entfernt liegt, um dort an einem Seminar teilzunehmen, bei dem du die meisten Leute nicht einmal kennst? Klingt unwahrscheinlich, oder? Doch genau das habe ich getan. Denn meiner vorderen Inneren Person, die mein Leben stark mitgestaltet, gefällt so etwas sehr. Sie ist eine neugierige, abenteuerlustige und risikobereite Frau. Ich fuhr also mit dem Nachtzug von Berlin nach Freiburg – das allein war schon ein Abenteuer. Und ich fand das ganze Wochenende eine große Bereicherung!

Natürlich suchte ich mein Reiseziel nicht aufs Geratewohl aus. Ich war eingeladen und wusste, dass sich die Menschen dort intensiv mit einem Thema beschäftigen, dem ich mich auch schon seit vier Jahren widme: Wir erforschen uns und unsere Inneren Personen mit Hilfe der IndividualSystemik.

Zu Fuß vom Bahnhof unterwegs zum Seminarraum gingen mir viele Erinnerungen durch den Kopf, die mit den verschiedensten Stimmungen behaftet waren. Wie unsortierte Teile eines Puzzles fielen sie in mein Bewusstsein. Das kenne ich von mir. Von der Arbeit mit Inneren Personen erhoffe ich mir, eine klarere Struktur in meinem wechselhaften Innenleben erkennen zu können. Diese Sehnsucht hat wenig mit Abenteuerlust zu tun, sondern eher mit Ordnung, Klarheit und Harmonie. Deshalb könnte es sein, dass sie nicht zu meiner vorderen Frau, sondern zu einer anderen Inneren Person gehört.

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Kein Mensch ist immer gleich. Jede*r kennt an sich eine „Schokoladenseite“. Und weiß, dass es auch Seiten gibt, die er*sie anderen Menschen gegenüber nur ungern präsentiert. Damit diese nicht gesehen werden, entwickeln wir – bewusst oder unbewusst – ausgefeilte Strategien.

Nach einer Kennenlern-Übung mit verschiedenen Begegnungen in der ganzen Gruppe von etwa 20 Frauen und 10 Männern von jung bis lebenserfahren, fanden wir uns zum Austausch in kleinen Gruppen von 4-5 Menschen zusammen. Erst danach wurde uns mitgeteilt, das sei jetzt für dieses Wochenende unsere „Familie“. „Würde ich die gleichen Leute gewählt haben, hätte ich das vorher gewusst?“ fragte eine Stimme in mir, die wohl zu einer aufmerksamen und kritischen Inneren Person gehört. Doch meine vordere „Frau Abenteuerlust“ lässt sich durch solche inneren Einwände gar nicht gern verunsichern. Sie sieht in jeder Situation erstmal das Positive: „Das ist doch egal“ höre ich sie in mir sagen. „Bei jeder Zusammenstellung gibt es etwas zu lernen. Und vielleicht darf ich auch eine Anregung für meine ‚Familienmitglieder‘ sein?“ hofft sie, denn sie teilt ihre inneren Gaben gerne mit anderen.

Meine Schokoladenseite

Meistens bin ich freundlich, offen, umgänglich, mitfühlend – sympathisch eben – dazu noch musikalisch und kreativ. Genauer gesagt ist meine vordere Frau so, wenn man sie kennenlernt, also an ihrer Oberfläche. Ich nenne sie Erika, weil der Name so schön im Walzertakt schwingt. Durch sie komme ich tänzerisch leicht in Kontakt zu anderen.

Genauso beschrieb mich auch die Frau, mit der ich die erste Übung machte. Dabei ging es darum, ein Gefühl für eine meiner vorderen Inneren Personen zu bekommen. Diese ist Teil des sogenannten „Empfangskomitees“ in mir und gestaltet meinen Kontakt zur Welt. Meine Übungspartnerin sollte, während ich ihr erzählte, wie es mir ging, darauf achten, WIE ich ihr das erzähle. Sie machte sich Notizen über meine Körperhaltung, Stimmlage, Sprechweise und Ausstrahlung.

Neben den oben erwähnten leichten Qualitäten war da auch etwas Nüchternes, Analytisches dabei. Denn gleichzeitig gibt es auch eine Person mit einer scharfen Wahrnehmung in mir. Sie sortiert ihr Gegenüber anhand ihrer bisherigen Erfahrungen in „macht mich neugierig“, „angenehmer Zeitgenosse“ oder „Vorsicht geboten“. Deshalb vermute ich, dass es in meiner Innenwelt eine weitere Person gibt. Sie schaut sich die Menschen unter dem Aspekt der Verträglichkeit etwas kritischer an und sortiert sie in bestimmte Schubladen ein. Diese Person nenne ich Harry, weil sie einen starken Willen hat und warten (ausharren) kann.

Im weiteren Verlauf der Übung hatten drei Frauen die Aufgabe, meiner Erika ähnlich zu werden. Wir wurden so zu einer fröhlichen Gruppe, die vor Energie nur so strotzte. Am liebsten hätten wir alle anderen mit unserer Freude angesteckt. Obwohl das großen Spaß machte, hörte ich eine kleine Stimme leise in mir fragen, warum ich nie so einfach Freunde gefunden hatte, wenn es doch scheinbar so leicht war!?! Aber ihre aufkeimende Traurigkeit unterdrückte Erika gleich wieder. Sie ließ nicht zu, dass sie sich zeigte, um die Stimmung nicht zu verderben. Dafür spüre ich sie jetzt beim Aufschreiben umso intensiver. Jetzt wird mir bewusst, dass Erika unter ihrer Fröhlichkeit auch Traurigkeit und Verletzlichkeit in sich trägt. Die zeigt sie anderen nicht so gerne – sondern lieber ihre frohe (Schokoladen-)Seite.

Geheime Machtseiten

Emotionale Verletzungen hat jede*r mal erlebt. Ich stelle mir vor, dass sie z.B. in Situationen entstehen, wenn – bildhaft gesprochen – zwei Bäume zu nah beieinander wachsen und einer dem anderen das Licht wegnimmt oder beide um den Zugang zu Wasser konkurrieren. Wenn ich das Gefühl habe, dass mir jemand auf diese Weise zu nah kommt, kann ich ziemlich unwirsch werden, energisch, stur, wütend, fordernd, trotzig, schweigsam. Wer das weiß, kennt mich schon ziemlich gut. Warum ich manchmal so bin, kann ich mir bisher allerdings nicht erklären. Denn ich bin nicht gerne so abweisend.

Das aufschlussreiche „Interview mit einer ehemaligen Geheimen Machtseite“ hat mich diesbezüglich sehr zum Nachdenken angeregt. Eine der Leiterinnen erzählte von ihren eigenen Erfahrungen. Sie schützte mit kampfeslustigem Verhalten ihre verletzliche Weiblichkeit und versteckte gleichzeitig ihre starken Führungsqualitäten. Nachdem sie sich jahrelang intensiv mit ihrer Geheimen Machtseite beschäftigt, einen Zugang zu ihr gefunden und deren Energiequelle in ihr Leben integriert hatte, wirkt sie heute freier, weiblicher, herzlicher und einladender auf mich, als bei unserer ersten Begegnung vor vier Jahren. Vielleicht komme ich mit manchen Problemen meines Lebens auch besser klar, wenn ich verstanden habe, was die tieferen Quellen meiner Kraft sind und welche Inneren Personen sonst noch in mir aktiv sind?

Musik und Kunst als Mittel des persönlichen Ausdrucks

Am Nachmittag wurde es richtig verspielt. Passend zu den Inneren Personen, die wir am Morgen kennengelernt hatten oder mit denen wir uns gerade beschäftigten, suchte sich jede*r ein Musikinstrument aus. Jede*r probierte aus, sich darauf auszudrücken, mit Melodie und Rhythmus. Schrittweise wurde es dann zusammengesetzt zu einem Gruppenklang.

Danach leitete eine Meditation die letzte kreative Aktion ein. Alle waren eingeladen, ein Bild zu ihrer aktuell aktiven Inneren Person zu malen und es anschließend in ihrer „Familie“ zu zeigen. Die Meditation war dazu da, sich mit geschlossenen Augen in die Innere Person einzufühlen, die man malen wollte.

Während ich am Vormittag aktiv mitgemacht und einen starken Fokus auf meine eigenen Kommunikationsweisen gesetzt hatte, hielt ich mich am Nachmittag stärker zurück. Musikalisch brachte ich mich nur zaghaft in das Gruppengeschehen ein. Während der Meditation fand ich es spannender, das Außen zu beobachten als das Innen zu fühlen. Vielleicht wollte die erlebnishungrige Erika gar nicht so sehr im Vordergrund stehen? Und auch die Stille und damit ein Tiefer-in-sich-einsinken vermeiden? Der Tag war ganz schön voll und lang für mich geworden.

Abschied mit Dank

Mit einer Abschlussrunde, einem gemeinsamen Abendessen und ausgelassenem Tanz beschlossen wir den Abend. Der Tag war von einem engagierten Team lange vorausgeplant worden und gefüllt mit inspirierenden Angeboten. Erika hat neue Bekanntschaften schließen dürfen und eine neue Aufgabe im Schreiben dieses Blog-Artikels gefunden. Harry bekam neue Impulse zur Fokussierung bei der genauen Beobachtung seines Umfeldes. Vor allem, um sich selbst noch besser kennenzulernen. Ich bin jedenfalls froh, dagewesen zu sein und freue mich auf weitere ähnliche Treffen und Begegnungen – im Innen wie im Außen.

Schreibe einen Kommentar