Brauchen wir Kategorien für unsere sexuelle Identität?

Gender ist in aller Munde

Vor einiger Zeit las ich folgenden erfrischenden Textausschnitt in der Süddeutschen Zeitung:

Emily Ratajkowski, 29, US-Model, hat eine ungewöhnliche Antwort auf die Frage, welches Geschlecht ihr ungeborenes Kind hat. „Wir antworten dann, dass wir das Geschlecht nicht wissen werden, bis unser Kind 18 ist – und dann wird es uns das sagen“, schrieb sie in einem Essay in der Vogue. Ihr gefalle die Idee, ihrem Kind so wenige Geschlechter-Stereotypen aufzuzwingen wie möglich. Ratajkowski und ihr Mann, der US-Schauspieler Sebastian Bear-McClard, 31, werden zum ersten Mal Eltern. (Süddeutsche Zeitung, 12.03.21)

Das Thema „Gender“ ist inzwischen nicht mehr nur ein Thema, das eine Randgruppe betrifft, die einmal im Jahr am Christopher Street Day im Zeichen der Regenbogenfahne durch die Straßen zieht und für ihre Rechte eintritt. Es hat eine breite gesellschaftliche Diskussion erreicht: Die „Heute“-Sprecher*innen des ZDF verzichten inzwischen auf die althergebrachte Formel: „Guten Abend, meine Damen und Herren.“ Auch bei der Deutschen Bahn ist „Liebe Gäste“ als Begrüßung etabiliert und selbst die Lufthansa hat „Ladies and Gentlemen“ aus ihrem Wortschatz gestrichen. 

Das binäre Geschlechtermodell von Frau und Mann wird aufgelockert und „queer“ durch die Gesellschaft wird „gegendert“. Die offizielle Erweiterung der Geschlechtsidentitäten um die Kategorie „divers“ hat in die Unternehmen Einzug gehalten. Die LSBTIQA+-Gemeinde wird stetig um kreative, bunte Buchstaben reicher. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, finde ich. 

Aber reicht es aus, immer neue Begriffe zu etablieren, in denen sich alle wiederfinden? Die gesellschaftliche Entwicklung erreicht dadurch eine neue Bandbreite. Aber erreicht sie auch eine größere Tiefe? Und wissen wir eigentlich, wovon wir sprechen, wenn wir uns selbst einer Kategorie zuordnen? Hat die Diversität im Außen eine Entsprechung in unserer Psyche?

Die Fünf Kontinente der Psyche

Die IndividualSystemik hat für unsere innere Diversität eine neuartige Einteilung in „Fünf Kontinente“ etabliert. Sie spricht von den Kontinenten „Frau, Mann, Kind, Tier und Gott“. Es handelt sich dabei um fünf archetypische Felder unseres Menschseins, die wir in jedem Menschen in unterschiedlicher Gewichtung vorfinden. Das Modell ist ein revolutionär neuer Blick auf unsere innere Diversität, das ich selbst als sehr klärend und befreiend erlebt habe. Es ist ein Modell, das zutiefst Sinn ergibt und unsere innere Vielheit nachvollziehbar strukturiert. 

Wenn ich meinen lesbischen Freund*innen von den Kategorien „Frau“ und „Mann“ in der IndividualSystemik erzähle, reagieren sie häufig wie von der Tarantel gestochen oder winken müde ab. Schnell wird diese Einteilung als „konservativ“ eingestuft. Stimmt das? Engt uns diese Sichtweise auf unser Inneres ein oder vertieft sie unser Verständnis? Und in wieweit birgt das Modell der Fünf Kontinente die Chance, ein grundlegend neues Verständnis für unsere Geschlechtsidentität zu bekommen?

Eine Umfrage im dubistviele-Feld

Um diesen Fragen nachzugehen, habe ich mich im Kreise der individualsystemischen Forscher*innen umgehört. Ich habe mit acht Personen eine Umfrage durchgeführt. Sieben von ihnen bezeichnen sich als „Frau“, eine von ihnen teilt sich selbst als „genderfluid“ ein. Vier der Teilnehmerinnen ordnen sich als heterosexuell ein, zwei als lesbisch, eine als bisexuell und zwei als „flexibel“. Vielen Dank an all die Mutigen, die bei der Umfrage mitgemacht haben. Ich habe euch exemplarisch ein paar Fragen und Antworten zusammengestellt.

Wie ist das für dich, Quellen aus den Kontinenten Frau, Mann, Kind, Tier und Gott in dir zu finden?

Alle Frauen erleben es als großen Gewinn, ihre innere Vielheit mithilfe der Fünf Kontinente beschreiben zu können. Die Wahrnehmung ihrer Innenwelt wird differenzierter und das Modell gibt ihnen eine Orientierung, welche Schwerpunkte ihre Psyche aufweist und welche Kontinente fehlen.

Hier zwei Antworten:

„Das Modell der Fünf Kontinente bedeutet für mich, zu diesen Kräften differenziert Zugang zu haben … Zudem macht es das Ungleichgewicht meiner inneren Kräfte fassbarer. Warum es mir z.B. schwerfällt, eine tiefere Bedürftigkeit zu spüren, liegt daran, dass ich kaum Zugang zu meinen ganz kleinen inneren Kindern habe. Oder warum ich mein Leben mehr mit weiblichen Fähigkeiten, z.B. in meinem therapeutischen Beruf, gestalte …“

„Als Frau mit starken technischen Neigungen habe ich mich unter Frauen immer etwas als Außenseiterin gefühlt. Deswegen hatte ich erwartet, dass dafür ein Mann in meinem System verantwortlich ist. Was mich überrascht hat, ist, dass mein Denker in der Tiefe eine Frau ist, eine Forscherin, und dass meine zentrale Geheime Machtseite eine Matriarchin ist. Ich bin viel mehr Frau, als ich dachte!“

Hat das dein Selbstbild verändert, dass du als Frau männliche Quellen in dir hast?

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Ich habe euch ja in Androgyn und in Der Patriarch in mir beschrieben, wie revolutionär für mich die Erkenntnis war, als Frau einen zentralen inneren Mann in mir vorzufinden, der Frauen begehrt. Ich habe darüber ein ganz neues Verständnis meines Androgyn-Seins und meines Lesbisch-Seins bekommen. Ich habe verstanden, dass mich diese Mischung aus Mann und Frau zu einer androgynen Frau macht. Und ich konnte spüren, dass mein Mann dazu beiträgt, dass ich Frauen anziehend finde.

So war ich sehr gespannt, wie sich das bei den befragten Frauen verhält. Ich wollte wissen, ob es ihr Selbstbild verändert hat, als Frau einen inneren Mann in sich zu haben. 

Die Frauen schreiben: 

„Ich habe dadurch meine männlichen Fähigkeiten bewusster zugänglich. Als sich mein innerer Mann wieder mit seiner guten Kraft verbunden hatte, konnte ich meinen Alltag besser organisieren und zum Beispiel mein Büro besser ordnen. Ich wurde selbstbewusster und klarer, wenn ich theoretisches Wissen vermittelte. Es hat mich im Umgang mit Männern im Beruf insgesamt selbstbewusster gemacht.“

„Ich fühle mich vollständiger, seit ich meinen inneren Mann entdeckt habe. Auch kraftvoller. Auch in anderer Weise verbunden mit Männern. Ich kann mich jetzt sozusagen von Mann zu Mann beziehen und nicht mehr nur von Frau zu Mann. Das macht einen großen Unterschied …“

Erlebst du das Phänomen der Anziehung im Inneren als polar?

Als ich meinen inneren Mann entdeckte, der Frauen liebt, habe ich begonnen, mich zu fragen, ob Anziehung „polar“ ist, also von weiblichen inneren Quellen zu männlichen inneren Quellen geht und umgekehrt. Ich traute mich zu Beginn kaum, diese Frage zu stellen, hatte ich ja viele Jahre darunter gelitten, dass in unserer Gesellschaft das Phänomen der „Heterosexualität“ postuliert wurde. Nach und nach machte ich mich von meinen Bedenken frei. Auch wenn Anziehung im Inneren polar sein sollte, so ließ es doch alle Möglichkeiten „im Außen“ offen.

Ich bekam folgende spannende Antworten auf meine Frage: 

„Es gibt Momente, in denen meine inneren Frauen die männliche Kraft anziehend finden und umgekehrt. Dann ist da die polare Anziehung, eine positive Spannung, in der ich in die eine oder andere Rolle gehen kann und es sich ergänzt … Wenn meine inneren Frauen andere innere Frauen anziehend finden, ist es eher eine weichere, gleichklingende, sich ausdehnende Energie, die sich im Miteinander verstärkt. Das sind zwei unterschiedliche Arten. Ich denke, dass sexuelle Orientierung etwas damit zu tun hat, zu welcher Qualität – die ja in Inneren Personen begründet ist – ich mich in einem Menschen hingezogen fühle. Es muss ergänzende UND ähnliche Innere Personen geben, so dass Spannung und Verbindung möglich sind.“

„Meine Beziehungsfrau ganz vorne ist eindeutig ´heterosexuell. Sie mag Sinnlichkeit und gibt sich gerne hin. Sie ist aber auch neugierig und wäre womöglich auch offen für einen Kontakt mit einer Frau. Mein vorderer innerer Mann ist eindeutig an Frauen interessiert. Wenn ich ganz in ihn eintauche, fühle ich mich falsch in meinem Körper, er fühlt sich darin gefangen. Ich kann dann Transgender-Menschen wirklich verstehen. Es gab immer wieder Situationen mit Männern, neben denen ich lag und mich plötzlich ganz fremd fühlte und mir wünschte, sie wären eine Frau. Das hat mich immer sehr erschrocken, weil es so vehement war. Ich habe es dann weggepackt. Jetzt weiß ich, woher es kommt. Ich habe seinen Wunsch nie ausgelebt. Denn bisher tritt er nicht offen für seine Bedürfnisse ein.“

Vier weitere Befragte erzählen, dass sich ihre inneren Frauen durchaus für Frauen interessieren würden – ob sich ihr Interesse auf jeweils eine weibliche oder eine männliche Quelle im Gegenüber bezieht, blieb offen. Ich habe vor kurzem eine innere Frau entdeckt, die das Weibliche in Frauen sexuell anziehend findet und sich auf sinnliche Weise mit ihnen verbinden will. Insofern habe ich nun selbst meine These widerlegt. 🤓

Welchen Beitrag leistet die IndividualSystemik zum Thema Gender?

Eine der Frauen schreibt:

„Die IndividualSystemik bietet durch das Konzept der Fünf Kontinente einen differenzierten Blick auf Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung … Sie fächert beides genau auf und macht sie nachvollziehbar. Sie lehrt Toleranz und Miteinander der verschiedenen Kräfte in uns und im Außen.“ 

Eine zweite Frau meint: 

„Für mich ist der zentrale Aspekt der IndividualSystemik in Bezug auf das Genderthema die Auflösung des Konzeptes der sexuellen Identität in die Polaritäten ‚Frau‘ und ‚Mann‘. Dadurch, dass wir die Diversität in uns anerkennen, können wir uns für beide Qualitäten – die ‚weibliche‘ und die ‚männliche‘ – öffnen. Wenn Männer und Frauen zu den unterschiedlichen Qualitäten in sich Zugang haben, entsteht mehr Freiraum …

Die IndividualSystemik gibt uns klare Werkzeuge an die Hand, um im Inneren zu untersuchen, wer unsere Geschlechtsidentität und unsere sexuelle Orientierung prägt. Dabei entstehen unzählig viele Möglichkeiten, sich auszudrücken: z.B. als androgyne Frau, die Frauen anziehend findet, als „weiblicher“ Mann, der Männer begehrt, als Mensch, der sich auf keine äußere Geschlechtszuschreibung festlegen will. Und natürlich haben darin auch heterosexuelle Menschen Platz, die in sich in ihrem biologischen Geschlecht zuhause fühlen und das andere Geschlecht anziehend finden 😊.

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Unsere Geschlechtsidentität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann sich im Laufe unserer Innenweltreise und mit dem Kennenlernen von neuen Inneren Personen verändern. Durch eine Frau in mir, die auf Beziehung ausgerichtet ist, bekomme ich im Moment eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, als Frau einen Mann zu lieben. Ob sich dies einmal in meiner Partner*innenwahl ausdrücken wird, bleibt noch offen.

Soweit mein Einblick in die Antworten der interviewten Frauen. 

Damit will ich gerne zurückkommen auf meine Ausgangsfrage: 

Engt uns die individualsystemische Einteilung in Kontinent Frau und Mann ein?

Das Männliche in mir als männlich zu erkennen und auszuloten hat mein Selbstverständnis entscheidend vertieft. Wie genau bin ich in Karim? Ich bin eben nicht „klassisch“ männlich, also nicht planend, vorausschauend und strukturiert. Ich bin eher impulshaft, gefühlsbetont und lasse mich von meinem Bauch leiten. Ich befinde mich mit ihm im Grenzbereich zu Kontinent Tier. 

Dieses Tiefergehen im Verständnis meines inneren Mannes ist die Voraussetzung, dass er sich seiner selbst wieder bewusst wird und seine Art und seine Fähigkeiten und ja, auch seine Bedürfnisse, wieder in Besitz nehmen kann. Durch diesen Vorgang kann ich Männern im Außen freier, selbstbewusster und offener begegnen.

Den Kontinent Frau in mir weiter zu erkunden, ist nun mein aktueller Fokus. Ich freue mich darauf zu entdecken, welche verschiedenen Arten von Frauen ich in mir trage und wie sie sich in meinem Leben ausdrücken wollen. Auch diesen Schritt erlebe ich als Vertiefung meines Begreifens von mir selbst. 

Dass das Modell der Fünf Kontinente neben den weiblichen und männlichen Aspekten die Qualitäten von Kind, Tier und Gott zusätzlich auffächert, macht die Bandbreite noch um vieles reicher und vielseitiger. Dadurch wird deutlich, dass wir neben den weiblichen und männlichen Aspekten zusätzlich über leidenschaftlich-instinkthafte, kindlich-verspielte und überpersönliche Qualitäten verfügen – alles Facetten, die sich in unserer Identität und der Art unserer sexuellen Neigungen ausdrücken können. Mit der IndividualSystemik und dem Modell der Fünf Kontinente können wir die ganze Fülle unseres Menschseins detailliert beschreiben und erfassen.

Insofern will ich meinen lesbischen Freundinnen entgegnen: Nein, diese Einteilung in „Frau“ und „Mann“ als zwei archetypische Felder der Fünf Kontinente engt nicht ein. Im Gegenteil: Sie öffnet ganz entscheidend mein Begreifen von mir selbst. Und sie macht mich freier und vertieft mein Verständnis meinen Mitmenschen gegenüber.

Brauchen wir Kategorien für unsere sexuelle Identität und Orientierung?

Brauchen wir die klassischen Geschlechtskategorien von Frau, Mann, Transgender usw.? Und sind Einteilungen für unsere sexuelle Orientierung wie hetero, homo, schwul, lesbisch oder bi* sinnvoll? Schaffen sie Toleranz und weiten sie unser Verständnis für unsere Mitmenschen?

In einer Diskussion mit Veeta Wittemann wurde mir bewusst, dass unsere bisherigen Identifikationsmodelle auf Ausgrenzung basieren. Als Gruppe, die sich auf bestimmte Werte geeinigt hat, grenzen wir uns von anderen ab, statt uns für sie zu öffnen. Dieses Phänomen habe ich auch in der Queer-Szene extrem erlebt.  Meine von mir erklärte Zugehörigkeit zur Lesbenszene hat eine ganze Zeit lang mein Identitätsgefühl gestärkt. Dies war gut, um mit meinem Lesbisch-Sein vertrauter zu werden und mich durch den Kontakt mit Gleichgesinnten zu stärken. In einer Haltung der Selbstaufwertung habe ich mich jedoch von den „anderen“, also den Männern und den „Heterosexuellen“ abgegrenzt. Ich hielt mich für „anders“, ja sogar für „besser“.

Wenn man dieses Phänomen der Identitätsstärkung und Ausgrenzung anderer weiterverfolgt, so können sich dadurch Feindschaften zwischen Gruppen entwickeln, die bis hin zu Kriegen eskalieren können.

Mit dem Menschenbild der IndividualSystemik relativiert sich die Notwendigkeit von Geschlechtskategorien und sexuellen Orientierungen. Wir wissen, wir haben alle vielfältige Willenskräfte aus den Fünf Kontinenten in uns. Diese Quellen haben sich meist von ihrer ursprünglichen Natur entfernt und dadurch steht ihnen ihre ureigene, gute Kraft nicht mehr frei zur Verfügung. Wenn wir diese Willenskräfte kennenlernen und uns ihren oft sehr tiefen Ohnmachtsthemen zuwenden, können wir uns als Menschen dahin entwickeln, wie wir ursprünglich gedacht sind: als Individuen, die verbunden sind mit der eigen-willigen Liebe ihrer unterschiedlichen Quellen, die sich alle auf ihre eigene Art ausdrücken wollen. Durch diesen Entwicklungs- und Bewusstseinsprozess entsteht ganz natürlich ein vielfältiges und potentes Miteinander der Kräfte im Innen und im Außen. 

Das Menschenbild der IndividualSystemik basiert auf einem Verständnis des Menschen aus seiner Tiefe heraus, das uns alle vereint in unserer einzigartigen Vielfalt. 

Ich möchte mit den Sätzen von Veeta Wittemann abschließen:

„Die eigene umfassende menschliche Natur zu begreifen, sie von ihren Altlasten zu befreien, sie zu entfalten, würde von selbst ein globales WIR erzeugen. Und damit eine befriedende Wirkung entfalten.“ 

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12 Gedanken zu „Brauchen wir Kategorien für unsere sexuelle Identität?“

  1. Liebe Tilda, mit deinem Artikel und mit der tollen Idee, eine Umfrage zu starten, um dann die verschiedenen Antworten zu beleuchten, hast du mir einen richtigen Augenöffner geschenkt: „Sex und die 5 Kontinente der Psyche – und was sich daraus ergeben kann“. Die Vielfältigkeit menschlicher sexueller Neigungen wird durch diese Perspektive zu einer Selbstverständlichkeit. Ich denke gerade noch etwas weiter in Richtung Meditation und Sex, in Richtung Gruppensex, in Richtung animalischer sexueller Begegnung zwischen Menschen. Und dann natürlich auch in Richtung sexualisierter Gewalt. Ich denke, da hast du uns auf deine klare und umsichtige Art einen wichtigen Anstoß zum reflektieren und weiterforschen gegeben.

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    • Lieber Robert,
      vielen Dank für deinen erfrischenden Kommentar zu meinem Beitrag.
      Er ist für mich tatsächlich auch ein Augenöffner und vielleicht sogar ein Türöffner…😊
      Du bringst das Thema mit deinem Kommentar ganz in die Gegenwart und befreist es von jeglichem Festhalten an sexuellen Identitäten.
      So kann ich mich fragen, was wünsche ich mir im Hier und Jetzt in Bezug zu meiner Sexualität – mit meiner Partner*in oder sogar mit mehreren Menschen…
      Durch die Vielseitigkeit unserer Inneren Quellen eröffnet sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten.
      Dies wird natürlich erst auf der Grundlage einer Bewusstheit über unsere inneren Quellen im guten Sinne möglich – denn nur so können wir mit dem Thema Macht und Ohnmacht in der Sexualität verantwortungsvoll umgehen.
      Gerade in Karim finden deine Überlegungen zu dem Thema Spiritualität und Sexualität und Gruppensex eine Resonanz, über die ich gerne noch weiter sinniere…
      Danke für Deine Inspiration.
      Liebe Grüße,
      Tilda

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      • Liebe Tilda, das hast du gut formuliert: „..das Festhalten an sexuellen Identitäten…“ als Gegensatz zu meinen Wünschen „… im Hier und Jetzt in Bezug zu meiner Sexualität“.
        Die Freiheit und Freizügigkeit, die sich aus so einer Auflösung von Identitäten ergeben würde, trägt natürlich immer den Keim von großer Beliebigkeit und der daraus entstehenden Belanglosigkeit in sich. Es gibt genügend Beispiele, wie Experimente sexueller Befreiung in sinnloser Schein-Freiheit versunken sind.
        Identität ist eben auch ein natürlicher Vorgang, der innere und äußere Stabilität und Orientierung erzeugt. Genauso ist er Ergebnis gesellschaftlicher Bevormundung, die darauf besteht, uns in möglichst eindeutigen und beschränkten Identitäten fest zu halten.
        Ich stimme Barbara (s.u.) zu, wenn sie sagt: „….um sexuelle Identitäten zu verstehen, zu besprechen und zu erforschen, ist es sehr sinnvoll (auch) nach den Kontinent(en) zu fragen.“
        Wir brauchen Kategorien um uns zu verständigen; nicht nur untereinander, sonder genauso in uns und mit uns selbst.
        Du schreibst: „Dies wird natürlich erst auf der Grundlage einer Bewusstheit über unsere inneren Quellen im guten Sinne möglich – denn nur so können wir mit dem Thema Macht und Ohnmacht in der Sexualität verantwortungsvoll umgehen.“ Genau!
        Wenn wir uns einmal unserer inneren Landschaft bewusst sind, wenn wir wissen, wer in uns welches Begehren, welche Lust hat, und ob diese Lust sich selbst geben will oder den anderen ausbeuten, ob sie von etwas Unangenehmen weg will oder wirklich genau diese Begegnung meint, ob sich nicht vielleicht sogar ein rachelüstiger Wille darin verbirgt, der die vermeintliche Offenheit als Einfallstor für seine Verwüstungen nutzt …. dann erst können wir es uns leisten, uns in großer Freiheit lustvoll zu begegnen und gegenseitig zu beschenken.
        Der Weg dorthin scheint weit; die Kluft zwischen den leicht vorstellbaren Idealen und der mühsamen inneren und äußeren Realität breit. Aber die Träume dürfen ja vorauseilen, solange wir es auf uns nehmen, sie getreulich an der Wirklichkeit zu messen.

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        • Lieber Robert,

          vielen Dank für deinen Kommentar. Dein tiefer und weiter Blick auf das Thema führt mich weiter in meinen Überlegungen.
          Ich denke vor allem noch über folgenden Satz von dir nach: „Identität ist eben auch ein natürlicher Vorgang, der innere und äußere Stabilität und Orientierung erzeugt.“

          Ich frage mich, wo engt Identität uns ein und wo gibt sie uns Stabilität? Und welche Kategorien machen Sinn, um eine Identität zu beschreiben?

          Wie ich in dem Kommentar an Aurora angemerkt habe, so finde ich, dass die IndividualSystemik in Bezug auf uns Menschen wirklich Kategorien beschreibt, die mir Stabilität und durch die Fünf Kontinente eine Balance geben, die mich zufrieden und satt machen.

          Eigentlich postuliere ich in meinem Artikel, dass diese individualsystemischen Kategorien ausreichen und aufgrund dessen sexuelle Identitätszuschreibungen flexibel sind und letztlich unwichtig werden.
          Gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich mich trotzdem sehr gerne nach wie vor „nach außen“ als biologische Frau identifiziere. Mir gibt das eine Orientierung und erfüllt mich mit Stolz, auszusprechen, dass ich eine Frau bin – wenngleich ich es bei anderen immer unwichtiger finde, welches biologische Geschlecht sie haben.

          Ich denke, dass sich unsere Identität an den Werten unserer im Moment stärkeren inneren Kräfte ausrichtet. Das kann sich im Laufe unseres Lebens verändern. In mir werden gerade meine inneren Frauen bedeutsamer. Gleichzeitig spielt auch Karims Liebe für Frauen mit hinein, was letztlich bewirkt, dass ich mich gerne im außen als Frau identifiziere.

          Ich denke, es ist ein uns innewohnender Wunsch, uns in der Welt in Bezug zu anderen zu positionieren und in Relation zu setzen und auch Andersartigkeiten genau zu benennen. Dadurch wird das „Besondere“ in uns sichtbar und bekommt einen Wert. Und das erzeugt Identität und Stabilität.
          Dabei finde ich, dass es von grundlegender Bedeutung ist, dass wir unsere Identitätszuschreibung aus einer Haltung der Gleichberechtigung der Fünf Kontinente heraus leben und daraus den anderen Menschen und deren „Besonderheiten“ gegenüber treten.

          Liebe Grüße, Tilda

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          • Liebe Tilda, das ist ein schöner Gedanke, den du da einführst: die „Besonderheit“ als drittes Geschenk von Identität – neben Stabilität und Orientierung.
            Bisher wird Besonderheit ja eher negativ definiert (und zu oft auch erlebt): als Abgrenzung oder gar Überheblichkeit gegenüber dem Anderen. So wie ich dich verstehe ist „das Besondere“das du meinst eher ein Geschenk, das du an dich selbst und an andere Menschen machen kannst.
            Ähnlich dem Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus. Der gute Patriotismus sagt: wir sind stolz auf unsere Eigenheiten, aber wir freuen uns auch an den Besonderheiten der anderen.
            Es geht also um das Ja, das einer Haltung, einer Besonderheit, innewohnt. Dieses Ja ist die ursprüngliche Liebe eines Teils in uns, der sich freut, sich selbst verschenken zu dürfen.
            Danke, dass du das mit in dieses Gespräch bringst!

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  2. Liebe alle,
    Ich erlebe die sexuelle Identität bei den meisten Menschen, wie auch bei mir, als relativ stabil und denke, dass das daran liegt, das wir meist nur aus einigen wenigen Inneren Personen und Reaktionshaltungen heraus unser Leben bestreiten.

    Für mich sind die 5 Kategorien oder Kontinente eine systemische Darstellung von Energiequalitäten übersetzt in eine allgemein verständliche Sprache und Darstellung. Sexualität braucht keine Kategorien, aber um sexuelle Identitäten zu verstehen, zu besprechen und zu erforschen, ist es sehr sinnvoll (auch) nach den Kontinent(en) zu fragen. Wenn ich von einem Inneren Kind spreche, ist z.B. klar, dass hier eine kindliche Sexualität zu finden sein wird, evt. im Übergang zu einem anderen Kontinent.

    So wie die Haltung zum Leben aus verschiedenen Inneren Personen heraus unterschiedlich und somit konfliktbeladen sein kann, so würde ich das auch bei der sexuellen Identität verorten. Leben und agieren mit anderen Menschen ist immer voller Spannungen, das ist ja einer der Gründe für den Rückzug von Inneren Personen in uns.

    Ob man einem Kind einen Gefallen tut, mit der Geschlechtszuschreibung zu warten bis es erwachsen ist, diese Frage würde ich aufgrund meiner Erfahrung mit Nein beantworten. Man merkt sehr deutlich, ob das Geschlecht klar ist und Kinder wollen klar behandelt werden und fordern das auch ein. Wenn es unklar ist, was natürlich auch vorkommt, dann braucht es ein sensibles Vorgehen, aber in den meisten Fällen ist das nicht so. Kinder nehmen ganz natürlich im Spiel verschiedene Rollen (und Geschlechter) ein – auch Außeridische 🙂 – immer eine ausgezeichnete Möglichkeit, mit hinein zu springen und es ihnen gleich zu tun!

    Zur Diskussion, ob man das binäre Geschlechtermodell streichen soll würde mich die Meinung von transsexuellen, transgender und transidenten Menschen interessieren. Wenn die gesellschaftliche Entwicklung weg von „Liebe Damen und Herren“ hin zu „Liebe Menschen“ geht und wir bei einem Formular mittlerweile bis zu 7 (!) Möglichkeiten haben, unser Geschlecht anzukreuzen, finde ich das zwar persönlich seltsam, aber vielleicht bin ich da rückschrittig. Ein praktisches Beispiel: wir bauen im Büro gerade die Toiletten um und die Frage kam auf, ob wir für das dritte Geschlecht eigene Toiletten bauen sollen, die Idee, es aus platzsparenden Gründen gemeinsam mit dem Behinderten-WC zu machen, wird wohl auch nicht gut ankommen – somit fühle ich mich momentan skeptisch und werde die Entwicklung weiter verfolgen.

    So weit mein Diskussionsbeitrag. Liebe Grüße, Barbara

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    • Liebe Barbara,
      ich finde deinen Kommentar sehr spannend und anregend. Ich habe vor allem aufgemerkt bei der Frage, wie man Kindern begegnen sollte. Ich war von der Idee, seinem Kind „neutral“ zu begegnen bis es 18 ist, ziemlich angetan. Sie vermittelt die Einstellung, niemanden in eine vorgegebene Rolle zwängen zu wollen und das finde ich gut. Aber du hast absolut recht, Kinder brauchen eine Antwort. So wie sie erst durch ein Gegenüber ihre Emotionen verstehen lernen, brauchen sie Orientierung zu ihrer sexuellen Identität. Um den kindlichen Forschergeist und die „Warum“-Phase kommt man ja auch kaum herum:-) Und wenn die Antwort feinfühlig, spiegelnd und spielerisch ist, gibt es auch keinen Zwang sondern sie lässt weiter alle Türen offen.
      Danke für den Kommentar, liebe Grüße, Schneemohn

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  3. Liebe Tilda,
    dein Artikel zum Thema Geschlechtsidentität ist sehr spannend, tiefgreifend und umfassend. Ich bin beeindruckt davon, welche Fragen du dir stellst, wie gründlich und beharrlich du ihnen nachgehst und dich auch nicht scheust, deine eigenen Thesen über den Haufen zu werfen. Die Antworten der Frauen aus deiner Umfrage sind für mich wie ein Blick durch das Schlüsselloch ins Reich der unendlichen Möglichkeiten unseres menschlichen Erlebens.
    Mir ist beim Lesen noch klarer geworden, wie wenig ich selbst bisher von diesem Reich kenne. Ein Grund mehr für mich, meine „Beziehungsfrau“ weiter zu ergründen, die bisher Beziehung vor allem verhindert.
    Deine Gedanken und die Antworten der interviewten Frauen haben mich dazu angeregt gründlicher nachzuspüren, von welchen Qualitäten sich meine inneren Frauen und mein innerer Mann angezogen fühlen. Ich bin gespannt darauf, wie viel offener und toleranter ich Menschen gegenüber sein kann, wenn ich die Schubladen weglasse.
    Vielen Dank für deine Anregungen und deine Offenheit!
    Liebe Grüße, Stella

    Antworten
  4. Liebe Tilda,
    ich finde deine Auseinandersetzung mit dem Gender-Thema sehr interessant und unglaublich faszinierend. Ich konnte in mir durch die individualsystemische Forschung eine Frau und einen Mann in meinem Frontteam entdecken. Aber wie sich das auf meine sexuelle Identität auswirkt, diese Frage hatte ich mir nicht wirklich gestellt. Wäre es nicht toll, wenn wir uns auf diese Vielfalt in uns allen verständigen könnten, anstelle uns noch mehr gegeneinander abzugrenzen?!
    Danke, dass du deine Gedanken und dein Erleben hier teilst, das ist für mich sehr bereichernd.
    Viele Grüße

    Antworten
    • Liebe Ramona,
      vielen Dank für deine Antwort zu meinem Beitrag!
      Ja genau, das denke ich auch – das würde unser Leben als Menschen im Miteinander unglaublich bereichern, weil uns diese Sichtweise miteinander vereint. Insofern führt es innerlich zu einer Öffnung hin zu dem anderen statt zu einer Abgrenzung. Gerade in heterosexuellen Beziehungen findet ja oft eine starke Abgrenzung aufgrund der scheinbaren „Andersartigkeit“ statt. Toll ist doch, wenn beide Seiten diese Vielfalt zulassen können und anfangen, ein bisschen damit zu „spielen“ und darüber heraus zu finden, wer da in einem wohnt und auf den anderen antwortet – mal kraftvoll, mal verspielt, mal als Mann, mal als Frau, mal überpersönlich, mal anhänglich, mal sexuell…ich glaube, so wird das Beziehungsleben bunt und lebenswert…und ein großer Schatz für die eigene und gemeinsame persönliche Entwicklung.
      Viel Freude beim weiteren Entdecken deiner eigenen Vielfältigkeit!
      Liebe Grüße,
      Tilda

      Antworten
  5. Liebe Tilda,
    du bist in deinem Artikel einer spannenden Frage nachgegangen. Mir ging es zu Beginn meiner Beschäftigung mit der IndividualSystemik auch so, dass es mich irritiert hat, von typisch männlichen und weiblichen Qualitäten zu lesen. Ich empfand das als konservativ und klischeehaft und war fast etwas empört darüber, dass hier Frauen wieder Eigenschaften wie Bezogenheit und Emotionalität zugesprochen wird. Zumal ich mich als Frau so ganz anders wahrnehme.
    Inzwischen sehe ich aber, dass das Konzept der Fünf Kontinente und die Annahme vieler Innerer Personen das Gegenteil einer stereotypen Einordnung der Gesamtperson in die eine oder andere Schublade ist. Viel mehr ist es eine unglaublich differenzierte Herangehensweise, in jedem Menschen gerade diese vielen verschiedenen Qualitäten aufzuspüren, so dass sie im Idealfall in einer guten Gemeinschaft nebeneinander und miteinander leben können. Aber eben nicht durch die allgemeine Annahme eines inneren Kindes oder einer Anima und einem Animus. Sondern ganz konkret und erfahrbar in der Begegnung mit den Innere Personen.
    Ich bin bei meiner inneren Forschung bislang noch nicht auf einen inneren Mann gestoßen. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass sich in mir nicht auch eindeutig männliche innere Personen tummeln. Und das macht mich neugierig auf die weitere Forschung.
    Vielen Dank dass du dieses Thema so ausführlich für uns beleuchtet hast!
    Liebe Grüße,
    Aurora

    Antworten
    • Liebe Aurora,
      vielen Dank für deine Wertschätzung! Das freut mich, dass dich mein Artikel inspiriert hat. Und deine Antwort inspiriert mich wiederum, weiter über das Thema nachzudenken.

      Spannend, dass du zunächst auch über die Einteilung in „männlich“ und „weiblich“ in der IndividualSystemik gestolpert bist…ich denke, es geht vielen Menschen so, die damit in Berührung kommen und die sich inzwischen von den klassischen Rollenbildern von „Mann“ und „Frau“ verabschiedet haben.
      Das ist auch nachvollziehbar, sich daran zu stoßen… und ich finde es spannend, das nochmals übergeordnet in Bezug zu dem Thema „Kategorien“ zu betrachten.

      Mein Eindruck ist, dass der tiefere Punkt dabei ist, dass es der IndividualSystemik gelingt, Kategorien bis ganz in die Tiefe zu beschreiben und zu definieren. So ist es möglich, jede Innere Person bis ins Detail zu erfassen und ihr zu antworten. Erst dadurch kann sie sich in ihrer ganzen Vielfalt begreifen und ausdrücken.

      Dadurch wird es ihr möglich, sich über alle äußeren und von uns Menschen zu „kleinkarierten“ Kategorien hinaus zu entfalten und auszudrücken. Dadurch werden Grenzen gesprengt, ungenaue Einteilungen aufgelöst und das Leben wird in seiner ganzen Vielseitigkeit möglich.
      Ich denke, Kategorien müssen bis in die Tiefe stimmen, damit sie uns erweitern, entfalten und uns als Menschen einen.

      Dass dies der IndividualSysemik gelungen ist finde ich revolutionär und einen unglaublichen lebensbejahenden Schatz, der alles miteinschließt und vereint.

      Viel Spaß bei deiner weiteren Forschung… und beim Entdecken deiner Inneren Männer…
      Liebe Grüße,
      Tilda

      Antworten

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