Der Patriarch in mir

In meinen ersten Jahren in der Lesben-Szene war ich ganz erfüllt davon, mich meines neuen Lebensweges zu vergewissern und mir immer wieder zu bestätigen, dass das richtig ist, wie ich lebte und mich selbst definierte. Dazu gehörte auch, dass ich mich stark von den Männern im Außen abgrenzte. 

Waren nicht sie verantwortlich für die Misere der Welt? Wäre nicht alles besser ohne dieses aufgeplusterte, selbstgerechte Mackertum? Wie wäre das, in einer Welt zu leben ohne sie – nur unter Frauen? Wäre ein Matriarchat statt eines Patriarchats nicht viel besser, ja vielleicht sogar heilsbringend?

So fand ich mich mit Mitte Zwanzig in einer männerfreien Lesben-WG wieder. Streng und voller Überzeugung hielten wir die Männer draußen – das war unser Raum. Und wir waren überzeugt davon, dass dies das einzig Richtige ist. 

Einige Jahre später machte ich mich auf den Weg, das Mysterium, das ich mir selbst war, mit Hilfe der IndividualSystemik zu erforschen. Schon recht bald fiel ich aus allen Wolken. Wie ich euch in Androgyn erzählte, habe ich dabei einen inneren Mann in mir angetroffen. Aber nicht nur irgendeinen: Ich hatte selbst einen regelrechten Patriarchen in mir! Er hatte die Alleinherrschaft an sich gerissen. Er entschied, welche meiner anderen Inneren Personen am Leben teilhaben durften. So zumindest präsentierte er sich anfangs: gottgleich, selbstbezogen und herrschsüchtig. Diese Erkenntnis stellte mein Selbst- und Weltbild komplett auf den Kopf. 

Hierarchische Ordnung

In unserer Innenwelt nehmen die Geheimen Machtseiten eine Schlüsselrolle ein. Es sind unsere willensstärksten Anteile, die sich ganz in den Hintergrund zurückgezogen haben. Sie wollen nichts mehr mit der Welt zu tun haben. Von hier aus steuern sie das ganze innere System und entscheiden, welche Seiten in uns zum Zuge kommen und welche nicht. Sie sind blind für die Wünsche und Bedürfnisse der anderen Inneren Personen und machen ein respektvolles Miteinander von innen heraus zunichte. 

Die Geheimen Machtseiten sind es, die verhindern, dass die natürlich angelegte Vielfalt in uns zur Entfaltung kommt. In Frauen nimmt diese zentrale Rolle nicht selten ein Mann ein – wie bei mir.

Vom Kaiser …

Dieser Mann – anfangs präsentierte er sich als ein chinesischer Kaiser – hatte sich in seine Privatgemächer zurückgezogen. In meinen Sitzungen bekam man nur seinen „Abgesandten“ zu Gesicht, der ganz in seinem Sinne handelte. Dieser „verwaltete“ die Menschen auf seine freundliche Art und machte immer nur Andeutungen von den tieferen Seiten in mir. 

Was ich da in mir vorfand, gefiel mir gar nicht. Ja, ich lehnte mich dafür ab – so wie ich die Männer im Außen abgelehnt hatte. Es war eine gewaltige Herausforderung, mich ihm zuzuwenden und genau zu erforschen, wer sich hinter diesem Herrscher verbarg. Langsam näherte ich mich der Geschichte dieses Mannes an. Dabei trat Erstaunliches zutage: Ich begegnete einem Erleben, das nicht mit meiner Biografie zu erklären war – ich fand etwas in mir vor, das aus einer anderen Zeit zu kommen schien …

… zu William

Dieser Mann hatte eine Geschichte von heimtückischem Verrat, Überwältigung und Ohnmacht erlebt. Er war der Anführer seiner Sippe gewesen – leidenschaftlich im Einsatz dafür, diese zu verteidigen und für die Werte dieser kleinen Welt einzustehen. Menschliche Werte waren es, die dort herrschten – ein Geist vielfältigen Miteinanders, satter, direkter Begegnungen und eines Lebens im Einklang mit der eigenen menschlichen Natur.

Wie sich in Traumbildern und in Sitzungen zeigte, wurde er genau an seiner empfindsamsten Stelle, seiner Liebe zu den Frauen, getroffen und verraten. Durch eine leidenschaftliche Verbindung zu einer Frau, die als Falle diente, wurde er aus dem Verkehr gezogen. Als sein Volk überwältigt wurde, konnte er es nicht verteidigen. Als er wieder zu sich kam, war sein Volk tot – heimtückisch ermordet. 

Dieses schmerzhafte Erleben hatte dieser Mann in sich abgespalten und war in die Isolation geflüchtet.

Kiselev Andrey Valerevich bei Shutterstock

Dieser Mann hatte gute Gründe gehabt, sich über das menschliche Maß hinaus als „Kaiser“ zu überhöhen. Die „Flucht nach oben“ in übermenschliche Gefilde war seine Lösung gewesen, um seine als Mensch naturgegebene Verletzlichkeit nicht mehr fühlen zu müssen und sein traumatisches Erleben in sich ruhig zu halten. 

Es wurde Zeit, diesem Mann einen anderen Namen zu geben: William – der „willensstarke, entschlossene Beschützer“.

Kollektiver Rückzug

Der Rückzug unserer willensstärksten Inneren Personen hat eine starke systemische Auswirkung in unserem Inneren. Dadurch, dass die Geheimen Machtseiten entschieden haben, nicht mehr am Leben teilzunehmen und gleichzeitig das Sagen haben, ziehen sie oft tiefere Seiten mit aus dem Verkehr. Diese bekommt die Welt gar nicht mehr zu Gesicht. Bei mir hatte das zur Folge, dass – obwohl ich eine Frau bin – meine inneren Frauen für mich lange unzugänglich waren.

Andere vordere Innere Personen agieren im Sinne der Geheimen Machtseiten – manche wohl oder übel – weil sie dieser Übermacht nichts entgegensetzen können. Wieder andere sind ganz einverstanden damit, weil sie eine große Loyalität in sich tragen, wie mein „Abgesandter“.

Übrig bleibt oft ein freundliches, angepasstes psychisches System, das darauf ausgelegt ist, in der Welt zurechtzukommen. Was in unserer Tiefe schlummert und welch großen Themen unsere innere Realität – und damit auch unser Leben – bestimmen, ist uns Menschen gänzlich unbewusst. 

Williams Rückzug hatte noch einen anderen Sinn: Er war aufgrund seiner alten Erfahrung sehr wütend und außer sich. Hätte er an meinem jetzigen Leben teilgenommen, hätte er alles kurz und klein geschlagen. Eine machtvolle innere Frau hat mit dafür gesorgt, William ruhig zu halten und ihn zu isolieren, so dass er in meinem Leben keine Verwüstung anrichtete. 

So lebte er lange in seinem Schonraum, den er und die anderen in mir aus Loyalität aufrechterhalten hatten – ein Raum, der sicher war, in dem aber nichts passierte – die Wut heruntergekühlt und alle Impulse bis zur Erstarrung gezügelt. 

Die Erstarrung in Bewegung bringen

Ganz langsam konnte ich innerlich diesen Raum – wir hatten lange das Bild eines sterilen Sauerstoffzeltes – betreten. Ich fing an, Kontakt zu bekommen zu Williams menschlichen Gefühlen. Dabei begegnete mir zunächst eine unbändige Wut und ein abgrundtiefer Hass auf die Menschen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mein „Ich hasse euch!“ für mich zuhause an die Wand geschrien und in den Boden gestampft habe.

Trotzdem fiel es mir sehr schwer, mich damit im Kontakt zu zeigen. Ich spürte immer eine Scham darüber, so geworden zu sein – das genaue Gegenteil von dem, was dieser Mann ursprünglich mal war in seiner Schönheit und Liebe für die Menschen. 

Diese Phase, meine Wut und meinen Hass zu bewegen, hat mehrere Jahre gedauert. Zwischendrin glaubte ich gar nicht mehr daran, dass es sich jemals ändern könnte. Nach und nach konnte ich Williams tiefsten Willen erfassen, der da hieß: ICH GEBE EUCH NIE WIEDER WAS VON MEINEM GUTEN! Ich vertraute niemandem mehr, auch denjenigen nicht, für die ich auch eine Liebe empfand. 

Anna Berdnik bei Shutterstock

In den Kerker steigen

Letztlich war es das Leben selbst, das William geholfen hat, sich seinem Ursprung wieder anzunähern. Durch eine psychische Krise, die mich aus meinem realen Leben herauskatapultiert hat, habe ich Williams altes Leid nochmals durchlitten. Ich bin sinnbildlich mit ihm nochmals in den Kerker gestiegen, in dem er nach seiner Überwältigung saß. Ich habe mich seinem alten Wahnsinn genähert, den er seitdem in sich trug. Ich befand mich nun selbst am Abgrund und wusste längere Zeit nicht, ob und wie es weitergehen sollte. 

Dieses Leid nochmals zu durchleben hat mich und William reifen lassen. Durch das Wiedererleben der alten Ohnmachtserfahrung konnte ich sie ein Stück verdauen und verstehen. Anders als damals habe ich erfahren, dass Menschen für mich da waren, als ich sie gebraucht habe. Ohne den liebenden Kontakt und die Unterstützung meiner Freundinnen und meiner Begleiterin hätte ich das nicht geschafft. Das war eine tiefe Erfahrung, durch die ich mehr Mensch geworden bin. 

Mann sein und in Beziehung sein

Immer wieder ist es ein Wunder für mich, wie sich mein Gefühl zu meinem inneren Mann-Sein verändert hat – vom überhöhten, sterilen Kaiserdasein, über den wütenden William hin zu dem stürmischen Prinzen Karim, von dem ich euch im letzten Beitrag erzählt habe. Je mehr ich seine Geschichte begreifen lernte und sah, wie sie ihn verändert hatte, um so besser konnte ich annehmen, dass es ihn in mir gab. 

Diese Wandlung in meinem inneren Mann hat auch einen spürbaren Effekt auf meine Beziehung zu Männern im Außen. Ich konnte Frieden schließen mit ihnen. Und manchmal ertappe ich mich sogar dabei, dass ich ihre Nähe suche. Denn es hat seine ganz eigene Schönheit, mit einer liebenden und bezogenen Männlichkeit im anderen in Kontakt zu sein, das weiß ich jetzt.

Was ich früher gemieden habe – in direkten Kontakt zu gehen – erlebe ich nun immer wieder als erfüllend und beglückend. Damit bin ich noch lange nicht am Ende, aber ich bekomme einen Geschmack davon, wie es sein kann, wenn Beziehung sich satt anfühlt. 

Astarot bei Shutterstock

Das innere Miteinander

Karim braucht nun Zeit, sich weiter zu reflektieren und seine Geschenke und Grenzen auszuloten. Er muss noch verstehen lernen, dass er nicht alleine ist, sondern in einem inneren Miteinander lebt. Sich seiner Führungsaufgabe wieder bewusst zu werden und sich im Team zu bewegen ist ein wichtiger nächster Schritt.

Welche systemische Auswirkung es im Inneren haben kann, wenn eine Geheime Machtseite wieder wahrnimmt, dass es noch weitere Innere Personen gibt, welche Dynamik dadurch entstehen kann und was dies für unsere innere Diversität bedeutet, davon handelt der nächste Beitrag. 

9 Gedanken zu „Der Patriarch in mir“

  1. Liebe Tilda,
    deinen Artikel habe ich mehrmals gelesen und immer wieder auf mich wirken lassen. Jedes Mal hat er was Neues angesprochen und die dazugehörigen Bilder haben dies gut untermalen können. Ich danke dir dafür, so an deinen Erfahrungen teilhaben zu können.
    Was mich besonders anspricht ist die Wucht der Gefühle und die Ohnmacht, der du dich in Karim stellen konntest. Das macht auch mir Mut. Ich befinde mich selbst mitten auf dieser Innenweltreise mit einem inneren Mann, der seinen Schmerz hält und diesen unter seiner Wut auf die Menschen lange Zeit nicht mehr spürte.
    Du schreibst, dass du nun eine Ahnung davon bekommst wie sich Kontakt satt anfühlen kann, wenn du dich in Karim direkter einbringst. Das ist ein Effekt von Lebendigkeit, den ich auch beginne, immer mehr zu erahnen und etwas davon zu spüren. Das und darum zu wissen, dass du das geschafft hast, motiviert mich, da es zeigt, wofür es sich lohnen kann, tiefer zu gehen.
    Spannend finde ich auch den Aspekt deiner Sozialisation in der Lesbenszene. Die ich ja selbst auch gut kenne. Ich beziehe mich da auf das Phänomen, dass etwas ausgeschlossen wird im Außen, was doch auch in uns existiert und (noch) nicht bewusst ist. Im Inneren sogar in der Isolation lebt. Aus dem Bewusstsein für die innere Diversität hast du offensichtlich wieder einen ganz neuen Spielraum in dir gewonnen für die Männer im Außen. Welchen Einfluss diese innere Arbeit nicht nur auf uns selbst hat, sondern auch auf die Welt, wird dabei sehr deutlich.
    Ich bin sehr gespannt auf deinen folgenden Artikel.
    Liebe Grüße von Pepper

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    • Liebe Pepper,
      danke für deine Antwort.
      Ich freue mich, dass du dich so intensiv mit meinem Beitrag befasst und er dich zu weiterführenden Gedanken anregt. Dass er dich motiviert, mit dir weiter zu gehen freut mich besonders.
      Ja, die Wucht der Gefühle, die da in einer/m schlummern sind anfangs gewöhnungsbedürftig. Letztlich ist darin schon eine große „Intensität“ enthalten – auch wenn die Gefühle erst mal negativ sind, wie die Wut oder der Hass. Dass es dann im Guten genauso intensiv werden kann ist toll, finde ich.
      Ja, das sehe ich auch so: je tiefer unser Verständnis ist für unsere menschliche Natur in seiner Vielfältigkeit und mit all seinen dunklen Seiten, umso mehr können wir das Andersartige im Außen miteinschließen und damit in Beziehung gehen. Ja, insofern hat das Menschenbild der IndividualSystemik einen großen Einfluss auf unsere Haltung und unser Verhalten dem „Menschlichen“ gegenüber.
      Also: wir bleiben dran! Es lohnt sich!
      Liebe Grüße, Tilda

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  2. Liebe Tilda,

    mich beeindruckt, in welcher Präzision und Tiefe du die Geschichte von William/Karim für dich begreifbar machen konntest und wie du ihn mit Hilfe liebender Unterstützung aus einer so existenziellen Krise wieder ins Leben gebracht hast – was für ein Glück und was für ein liebender, starker und lebendiger Mann!

    Auf mich wirkt es fast wie ein Wunder, dass das möglich ist. Auch in mir gibt es einen instinktiven Mann. An zentraler Position innerhalb meines Systems ist er seit langem fest entschieden, seine Existenz und meine Tiefe vor meinem Bewusstsein und der Welt verschlossen zu halten. Sehr zum Leidwesen meiner Mitmenschen und mir selbst! Dieser innere Mann will nie wieder kämpfen, nie mehr urteilen! Dabei brauche ich ihn, um mein Leben zu gestalten. Sein Trauma kann ich zwar noch nicht nachfühlen, aber deine Ausdauer und dein Beitrag ermutigen mich an ihm dranzubleiben – ich danke dir!

    Liebe Grüße, Tom

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    • Lieber Tom,
      das berührt mich, was du zu mir und Karim schreibst.
      Danke für deine Anerkennung und Wertschätzung.
      Ja, das ist ein Wunder. Ich bin so froh, über diese innere Arbeit die Zutaten kennenzulernen und das Verständnis zu erlangen, die das möglich machen. Dass das Allerwichtigste die menschliche Beziehung ist hat mir lange nicht gepasst, inzwischen finde ich genau das gut.
      In deinem Entschluss, nie mehr urteilen und kämpfen zu wollen ist schon das Gute in deinem Mann zu fühlen.
      Dennoch ist es wichtig, die negativen Emotionen in Bewegung zu setzen, obwohl man so gar nicht sein will. Das war nicht leicht für mich. Ich habe in Karim lange damit gerungen, durch die eigene Geschichte ein ganz anderer Mensch geworden zu sein.
      Ich wünsche dir den Mut dazu und das Vertrauen, dass darunter dein Gutes wartet.
      Alles Liebe für dich, Tilda

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  3. Liebe Tilda,
    ich bin ganz sprachlos über deinen so unglaublich ehrlichen und interessanten Artikel, der mich sehr berührt. Und welche Entschlossenheit du aufgebracht hast, deinen Weg trotz aller Hindernisse weiterzugehen! Da wird für mich ein starker Wille und eine Sehnsucht, deinen wahren Boden zu finden, spürbar. Das Erstaunen darüber, dass die Verletzungen unserer Inneren Personen teilweise gar nichts mit unserem jetzigen Leben zu tun haben, kenne ich gut. Ich fand es sogar sehr befremdlich – bis in mir selbst Bilder aus einer anderen Zeit auftauchten. Eine rationale Erklärung fällt mir schwer, aber die Intuition sagte mir einfach, dass es wahr ist. Daher danke ich dir, dass du davon so offen und eingebettet in deine Geschichte erzählst. Und ich wünsche dir von Herzen, dass du mit Karim weitere Schritte in seine Kraft wagen kannst und sein Vertrauen in die Menschen wachsen darf.

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    • Liebe Schneemohn,
      danke für deine Wertschätzung für meinen Beitrag und für mein Ringen mit mir. Das ist schön für mich, dass du beides siehst und anerkennst. Und es freut mich, dass du dich berühren lässt davon. Ja, das ist spannend mit den inneren Bildern, die auftauchen und die so tief in den Inneren Personen gespeichert sind. Mir haben diese Symbole geholfen, um über die anderen Kanäle in einen Ausdruck zu kommen und so das Alte zu verdauen.
      Danke für deine guten Wünsche für mich und für Karim.
      Liebe Grüße, Tilda

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