Ein gemütlicher Winterabend. Ein Becher Kakao, ein paar Kerzen, noch eine Kleinigkeit zu erledigen, da kommt der Anruf einer guten Freundin. Wie schön! Und dann plötzlich, ZACK – landen wir in einer erhitzten Diskussion über Corona, über das Für und Wider von Impfen, Testen, Regeln und Politik. Und das mit einer Wucht und einem Streitfeuer, das uns selbst überrollt.
Sicher, das ist in dieser angespannten Zeit keine Seltenheit. Oft kommt es mir so vor, als wären wir – zumindest in unseren überwiegend wohlstandsverwöhnten Breitengraden – mitten in einem Probelauf für künftige, sich zuspitzende Lebensengpässe. Wie meine Freundin und ich mit unserer aufgeladenen Auseinandersetzung umgegangen sind, wie diese uns zu den alten Themen unserer tiefen inneren Kräfte geführt hat und wie darüber wieder Kontakt, sogar Nähe entstanden ist, davon möchte ich euch erzählen.
Zwei im Recht
Meine Freundin Hanne hat sich entschieden, sich nicht impfen zu lassen. Durch die aktuell heiß diskutierte Impfpflicht droht ihr ein indirektes Berufsverbot. Was das für ihr Leben und ihren zukünftigen beruflichen Werdegang bedeutet, ist völlig offen. Verständlich, dass sie sehr unter Spannung steht. Für mich wiederum, die seit dem jungen Erwachsenenalter um jede nicht völlig notwendige Impfung einen Bogen gemacht hat, war es sehr früh klar, dass ich mich in diesem Fall impfen lasse. Bin ich nun der bessere Mensch? Oder der schlechtere? Bin ich umsichtig und sozial? Oder bin ich leichtgläubig und mache es mir zu einfach? Je nachdem, welches „Lager“ man fragt, bekommt man die eine oder die andere Antwort. Denn in einem waren auch Hanne und ich uns einig: Diese Krise spaltet. Viele Menschen nehmen extreme Meinungen ein und verteidigen diese mit einer Vehemenz und Absolutheit, die uns beide beunruhigt.
Unser freundschaftliches Gespräch nimmt weiter rasant Fahrt auf. Hanne geht es nicht gut. Mir geht ihr Schimpfen auf die politischen Entscheidungen auf die Nerven. Sie wiederum fühlt sich in ihrer Bedrängnis nicht ernst genommen und wirft mir vor, dass ich zu einseitig auf das Ganze schaue. Wir diskutieren immer erhitzter, schleudern Argumente hin und her, sparen auch das Persönliche nicht aus. „Du bist ja total fixiert“ und „Du denkst zu wenig an das Gesamte“ werfe ich ihr an den Kopf. Sie wiederum schimpft mich an „Du machst es dir zu leicht“ und „Du setzt dich nicht mit kritischeren Meinungen auseinander“. Beide werden wir immer wütender. Und plötzlich wird uns bewusst: wir heizen die Spaltung an. Gerade jetzt, hier miteinander sind wir voll Leidenschaft dabei, einen Keil zwischen uns zu treiben. Wir machen genau das gleiche, was da draußen in der Gesellschaft passiert! Aber warum?
Wer streitet hier eigentlich?

Seit einigen Jahren erforschen wir beide mit der IndividualSystemik unsere inneren Willenskräfte. Dadurch sind wir geübt darin, uns von Inhalten jeglicher Couleur zu lösen und uns zu fragen, WER die Quellen dieser Inhalte sind. Oder anders gesagt: welche Inneren Personen in uns sind aus welchen Haltungen heraus gerade aktiv? Wir beide kennen unsere zentralen Entscheider und Entscheiderinnen. Wir haben uns mit ihren alten, machtvollen Nein-Willen so lange auseinandergesetzt, bis sie bereit waren, ihren ursprünglichen Schmerz zuzulassen. Darüber konnten sie beginnen, sich an sich selbst, an ihre eigentliche Liebe und an ihre ursprüngliche Art zu erinnern. Doch es sind machtvolle Willenskräfte, die Zeit brauchen, sich wieder auf die verletzlichen Seiten des Lebens einzulassen. In brenzligen Situationen wird der machtvollen Selbstbehauptung immer wieder gerne der Vorzug gegeben: Es fühlt sich viel besser an, sich abzugrenzen und im Recht zu sein, als das weiche, fühlende Herz der „unberechenbaren“ Umgebung auszusetzen … Mehr über die zentralen Entscheider*innen und ihren Entwicklungsweg kannst du im Artikel Wer sind eigentlich diese Geheimen Machtseiten? nachlesen.
Hanne und ich landen im Feuer unseres Gesprächs ein paar Mal ruckzuck wieder bei den Meinungen unserer konträren Standpunkte und hauen uns unsere Überzeugungen voller Inbrunst um die Ohren. Ohne unser gemeinsames Wissen um die Kraft der alten Reaktionshaltungen Innerer Personen hätten wir vielleicht aufgelegt. Vermutlich wären wir uns die nächste Zeit eher aus dem Weg gegangen. Irgendwann ist die Krise ja hoffentlich vorbei und die Wogen werden ruhiger … Doch dank unserer Erfahrung, wie absolut die stärksten inneren Willenskräfte reagieren können, ist es uns nach einigen Anläufen möglich innezuhalten und uns selbst zu stoppen. Wir stellen fest, wie heftig die Ladung ist, die jede von uns in das Gespräch hineinbringt. Und obwohl wir uns beide mit unserer Meinung absolut im Recht fühlen, beginnen wir uns zu fragen, WER in mir, WER in dir kämpft da eigentlich so? Und worum geht es dabei, was ist das alte, das darunterliegende Thema?
Der alte Zorn
Hannes zentraler Entscheider ist ein impulsiver Mann, der aus einer anderen Zeit die Erfahrung in sich trägt, als Anführer überlistet und dadurch besiegt worden zu sein. Damals hat er sein Leben und alles, was ihm am Herzen lag, verloren. Im Prozess mit ihm landet Hanne immer wieder in überwältigend realen Bildern, in denen sie sich wie in einem Kerker fühlt, eingesperrt, bezwungen. Jetzt zur Impfung gezwungen zu werden rührt in ihrem inneren Mann diese Ohnmacht auf. Kraftvoll-instinkthaft wie er ist, wütet er dagegen mit aller Macht.

Mein zentraler Entscheider hat sich in den vergangenen Jahren vom egoistisch-machtbesessenen Herrscher, als den ich ihn kennengelernt habe, zu einem umsichtigen Führer entwickelt. Mit Herz und Kraft engagiert er sich nun wieder für andere und für ein echtes Miteinander. In meinem Artikel Mitten durchs Feuer habe ich etwas von seiner Reise erzählt. Vor ungefähr einem Jahr, angeregt durch eine Folge von Veeta Wittemanns Königinnen-Videoreihe (Teil 7 Die Falschen am Steuer), ist diesem Mann plötzlich etwas gedämmert. Zum ersten Mal kam ihm, dem führungsgewöhnten Mann, in den Sinn, dass er in meinem Innern die mächtigste Position stellvertretend eingenommen hat. Ihm selbst wurde bewusst, dass er eine Lücke besetzt – die Lücke meiner zentralen, führenden Frau. Seitdem geht es für mich darum, den Zugang zu meiner zurückgezogenen Matriarchin zu bahnen. Sie trägt einen alten, bitter gewordenen Vorwurf an Männer in sich, die das Weibliche benutzen und entwürdigen. Doch genauso wütend ist sie auf Frauen, die das männliche Macht-System mittragen und von denen sie sich stehengelassen und verraten fühlt. Dass sie in ihrem eigenen machtvollen Rückzug zwar für ihre Werte noch steht, aber nicht mehr für sie eintritt und dadurch heute selbst andere stehenlässt, das dämmert ihr erst langsam. Meist ist ihr Blick nur nach außen gerichtet. Und so wirft sie den Menschen, die sich nicht impfen lassen, vor, egoistisch nur an sich selbst zu denken und das Leid anderer billigend in Kauf zu nehmen. Dass diese für ihre Entscheidung auch gute Gründe haben können, das verliert sie ganz aus den Augen. Denn es trifft zielgenau ihre alte Erfahrung und umso größer ist ihre Wut und ihre Anklage.
Ihr alter unverdauter Zorn, unterstützt durch den Fürsorge-Antrieb meines Führungsmannes, treibt mein Streitfeuer mit Hanne in Höhenflüge.

Der Weg hinaus
Als Hanne und mir es gelingt, innezuhalten und uns aufrichtig zu fragen, woher diese immense Sprengkraft rührt, mit der wir gerade unsere Fronten verhärten, wird es weicher zwischen uns. Zum Glück sind unsere Mächtigen mittlerweile so weit, die andere an die eigene Verletzung herankommen zu lassen, ihr etwas davon zu zeigen. Und so ist es möglich, dass ich Hannes Mann in seiner Not sehen kann und mitfühle, wie stark er sich dagegen wehrt, seine alte Erfahrung „wieder zu erleben“. Hanne wiederum lässt sich darauf ein mitzuempfinden, mit welcher Kraft meine Führungsfrau ihren eigenen Schmerz abwehrt und wie sie erst zögernd beginnt, diesen zu akzeptieren und sich ihm zuzuwenden.
Und plötzlich fühlen Hanne und ich wieder Verbindung. Wo vorher nur Kampf und aufgeladene Selbstbehauptung waren, werden wir versöhnlicher. Gemeinsam sinnieren wir dieser Erfahrung nach. Es stimmt uns nachdenklich, mit welcher von sich selbst überzeugten Wucht unsere mächtigen Inneren Personen bereit waren, ihre Verletzlichkeit abzuwehren. Dafür hätten sie sich verbal beinahe die Köpfe eingeschlagen. Und vorsichtig freuen wir uns an dem kleinen Wunder, wie sich unser Kontakt entspannen konnte, nachdem wir uns an den tieferliegenden Schmerz herangewagt hatten.
Ende gut – alles gut?
Ist unser Streit damit beigelegt? Sicher nicht. Noch immer haben wir gegenteilige Meinungen. Unsere inneren Entscheidungsträger*innen werden noch oft verweigern, ihr tieferes Thema zu fühlen, und stattdessen die machtvolle Selbstbehauptung vorziehen. Vermutlich werden wir dann erneut aneinandergeraten. Da uns diese Dynamik bewusster geworden ist, können wir sie hoffentlich beim nächsten Mal früher stoppen. Wirklich gut wird es dann, wenn unsere Machtvollen es in sich verwunden haben, wenn sie den Menschen, dem Leben und sich selbst verzeihen können, was sie erleben mussten. Erst dann können sie ihre eigene menschliche Verletzlichkeit ganz annehmen und in all ihrer Macht milder werden.
Die Fähigkeit, machtvolle Standpunkte einzunehmen, wird ihnen erhalten bleiben. Aber wenn es ihnen gelingt, dauerhaft mit ihrem Ja zu sich selbst und zu den anderen verbunden zu bleiben, kann sich die Macht nicht so radikal-gefährlich aufschaukeln. Dann werden sie selbst bei starken Selbstverteidigungsimpulsen – verbaler oder anderer Art – ein passendes Maß finden.

Zurück zur Gesellschaft
Jetzt kennst du Hannes und meinen Konflikt und unseren Umgang damit, im ganz Persönlichen, Kleinen. Wie Rapante im Artikel zu Macht und Verletzlichkeit geschrieben hat: Die Corona-Krise drückt diese beiden existenziellen Themen mit Wucht an die Oberfläche. In Bezug auf die gegenwärtige genauso wie auf künftige Krisen hat mir unsere private Auseinandersetzung eines ganz deutlich werden lassen: Dass wir eine nachdrückliche eigene Meinung haben und diese intensiv im privaten oder öffentlichen Raum vertreten, ist das eine. Mit welcher Wucht, Aggression oder sogar Gewaltbereitschaft wir sie anderen Menschen versuchen aufzudrücken, das hat etwas mit den alten blinden Reaktionshaltungen unserer machtvollsten Inneren Personen zu tun. Aus ihrer unbewussten, extremen Rechthaben-Überzeugung und ihrer Kampfbereitschaft entspringt die eigentliche Gefahr, die Menschen radikalisieren und Gesellschaften spalten kann.
Die IndividualSystemik bietet uns einen wirksamen Weg, diese tiefen Inneren Personen aufzuspüren und uns ihrer reaktiven Haltungen bewusst zu werden. Selbst wenn nicht alle Machthabenden unserer Innenwelt zu einem grundlegenden Sinneswandel bereit sind, können wir auf diese Weise einen verantwortlichen, besonnen Umgang mit ihnen finden. Denn wenn ich mir vorstelle, dass jeder Mensch diese unbewussten alten Reaktionshaltungen in sich trägt und in welchem Ausmaß gegenwärtige oder zukünftige Krisen diese entzünden und eskalieren können, wächst mein Respekt vor den künftigen Herausforderungen. Umso motivierter bin ich, in meiner manchmal unbequemen individualsystemischen Innenweltforschung weiterzugehen und andere Neugierige in ihrem Forschen zu unterstützen: Für mich selbst, für die Menschen um mich herum und nicht zuletzt als Vision für ein neues gesellschaftliches Miteinander.
Liebe Phoenix,
was für ein erhellender Beitrag für die momentane Herausforderung unserer Gesellschaft. Ja, die Spaltung, die das Impfthema in uns auslöst, ist täglich spürbar. Aus welchen verborgenen Tiefen in uns diese Kämpfe geführt werden, wird mir durch deinen Artikel sehr deutlich. Was für eine ungeahnte Power dort in den Ring steigt! Wie genial, dass uns die IndividualSystemik einen Weg aufzeigt, auf dem wir lernen, unseren übermächtigen und alten Feindbildern in die Augen zu schauen, sie uns bewusst zu machen und dadurch einen anderen Umgang mit unseren Haltungen zu finden. Das schilderst du sehr eindrücklich in deinem Konflikt mit Hanne. Zudem hat mich dein Beitrag dazu angeregt, selber nach innen zu schauen. Auch dort hat sich die stärkste Kraft, mein Führungsmann, durchgesetzt, obwohl es sogar andere Stimmen in mir gibt. Ich sehe darin eine parallele Dynamik zum Außen: Die Stärksten und Lautesten setzen sich durch, aber eine wirklich konstruktive Debatte, in der die verschiedensten Meinungen Gehör finden und Einfluss nehmen, wird nicht geführt. So schneiden wir uns von dem Wert ab, den unsere eigentliche Vielfalt mit sich bringen würde.
Ich danke Dir für diesen weitsichtigen Artikel.
Was für ein aktueller, umfassender, ehrlicher und kluger Artikel! Dass sogar scheinbar „objektive“ Themen wie „Impfen-ja oder nein“ an so tiefe persönliche Erfahrungen geknüpft sind, kann man angesichts der gesellschaftlichen Kämpfe ja ahnen. Wie genau das geschieht, und aus welchen Motiven, macht dieser Bericht in schöner Klarheit deutlich. Und er macht mir den Wert und die Präzision dieser inneren Arbeit wieder einmal deutlich.
Vielen Dank, Robert, für dein Lob! Ja, diese Präzision fasziniert mich sehr am individualsystemischen Weg. Und dass es durch diese Präzision möglich ist, dass sich selbst eine mitunter bornierte Haltung wirklich ändern kann. Das zu erleben ist wie ein kleines Wunder.