„Der Stoff aus dem wir sind“… und unsere blinden Willenskräfte

Warum hören wir Menschen eigentlich nicht damit auf, unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören, obwohl wir es längst „besser wissen“ müssten? Diese Frage stelle ich mir seit meiner Jugend. Sie ist auch Thema von Fabian Scheidlers neustem Buch Der Stoff aus dem wir sind – warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen. Keine Frage also, dass ich mir das Buch gekauft und mit großem Interesse gelesen habe.

Voller Begeisterung habe ich es letztes Jahr mit in mein Sommer-Retreat genommen. Dort hatte ich die Gelegenheit, mit Artho und Veeta Wittemann über das Buch zu diskutieren. Unser engagierter, stellenweise kontroverser Meinungsaustausch und der individualsystemische Blick haben mich in ein tiefes Nachdenken und inneres Ringen gebracht. Was Scheidler schreibt, faszinierte mich. Und doch begann ich zu begreifen, dass in seinem Buch ein entscheidender Aspekt fehlt.

Daraus ist dieser Blogbeitrag entstanden. Ich will euch davon berichten, wie meine Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der IndividualSystemik und meine persönlichen Erfahrungen mit diesem Entwicklungsweg meine Sicht auf die oben gestellte Frage fundamental verändert haben. Und davon, welche Parallelen ich in Scheidlers Buch entdeckt habe und was er – trotz seiner umfassenden Gedanken – meines Erachtens noch nicht im Blick hat.

Ein erster Blick ins Buch

Scheidlers zentrale These ist: Die Welt besteht in ihrer „Grundsubstanz“ nicht aus getrennten Teilen und beruht auch nicht auf Herrschaft. Auch wenn das unsere gängige Erzählung ist. Scheidler nennt das die „technokratische Weltsicht“, aus der heraus wir die Welt derzeit überwiegend gestalten. Stattdessen, so zeigt der Autor an vielen konkreten Beispielen auf, ist die ganze Welt – vom Allerkleinsten bis zum ganz Großen – in einem permanenten komplexen Kommunikations- und Beziehungsprozess miteinander verwoben und verbunden. Er belegt glaubhaft, dass wir auf allen Ebenen ein systemisches, sich selbst organisierendes Gewebe aus Beziehungen sind.

Wenn wir das wirklich erkennen würden, so Scheidler, könnte sich etwas ändern in der Welt. Wir müssten unsere Verbundenheiten und unsere Zugehörigkeit wiederentdecken. Dann würde ganz natürlich der Wunsch in uns wachsen, wieder (Mit-)Verantwortung für das Wohl des großen Ganzen zu übernehmen.

Beim Lesen wollte ich Fabian Scheidler am liebsten sofort zustimmen. Mit dem Wunsch, dass das Erkennen unserer Verbundenheit ausreichen könnte, die entscheidenden Veränderungen einzuleiten, spricht er mir aus der Seele. Oder zumindest aus einem Teil meiner Seele! Denn nach einigen Jahren individualsystemischer Innenweltforschung weiß ich, dass es mindestens eine „Innere Person“ in mir gibt, die ihre Verstandeskraft für ganz andere Zwecke einsetzt. Und die an Verbundenheit gar kein Interesse hat. Ganz im Gegenteil. Doch lange Zeit hatte ich davon keinen blassen Schimmer.

Ich gehöre zu den Guten!

Ein Mädchen bläst mit geschlossenen Augen in eine Pusteblume
sindlera/shutterstock.com

Schon immer war ich ein Natur-Kind: Ich habe Regenwürmer von der Straße aufgesammelt, hatte WWF-Regenwaldplakate in meinem Zimmer hängen und habe mich später in verschiedener Weise für Umweltschutz engagiert. „Natürlich“ habe ich heute kein eigenes Auto, kaufe überwiegend Bio und mein Bücherregal ist voll mit Weltrettungs-Lesestoff. Ich war mir lange Zeit sicher: Ich gehöre zu den Guten! Das Problem musste bei den anderen Menschen, im System oder bei „den Mächtigen“ liegen, die nicht kapieren, was jetzt wirklich wichtig ist.

Gleichzeitig beschlich mich immer wieder die leise Ahnung, dass all die Probleme im Außen auch etwas mit unserem Innern zu tun haben müssen. Auf der Suche nach Antworten stieß ich auf die IndividualSystemik, die mir einen außergewöhnlich klaren Blick auf unsere Innenwelt eröffnet hat. Sie geht davon aus, dass nicht nur die Welt, sondern auch die Psyche systemisch aufgebaut ist. Verschiedene autonome Willenskräfte, die Inneren Personen, leben gleichzeitig in uns und organisieren sich selbst.

Allerdings sind uns unsere Innenweltbewohner*innen und ihre Absichten kaum bewusst – so verwunderlich das auch sein mag. Genauso wenig „wissen“ diese selbst von sich. Bis jemand kommt und sie – wie die IndividualSystemik das tut – direkt anspricht.

Dabei haben die Willenskräfte in uns, auch die unbewussten, zum Teil enorme Auswirkungen auf unser Verhalten und damit auf die Welt. Artho Wittemanns Vortrag Gute Menschen, schlechte Welt – warum Gutsein nicht ausreicht um die Welt zu verbessern war diesbezüglich ein echter Augenöffner für mich. Er beschreibt präzise und eindringlich, wie die Verfasstheit unserer Psyche mit dem Zustand unserer Welt zusammenhängt. Und warum das „innere Aufräumen“ sich lohnt.

Was ich beim Aufräumprozess in meinen eigenen unbewussten Tiefen vorgefunden habe und warum ich nun nicht mehr behaupten kann, ich würde ausschließlich zu den Guten gehören, erzähle ich euch gleich. Jetzt zuerst nochmal zum Buch.

Unsere Verbundenheiten und die große Trennung

Leichtfüßig nimmt Fabian Scheidler die Leser*innen im ersten Teil des Buches mit auf eine Reise durch die modernen Wissenschaften. Immer ist er auf der Suche nach Belegen dafür, dass die Welt im Grunde aus Beziehung besteht. Und er findet sie zuhauf, z.B. in der Quantenphysik: Etwa das faszinierende Phänomen, dass sich kleinste Teilchen, die gleichzeitig erzeugt werden und damit „verschränkt“ sind, für immer gleich verhalten. Sie ändern jeweils im gleichen Augenblick ihre Drehrichtung – auch wenn sie inzwischen viele Kilometer oder gar Lichtjahre voneinander entfernt sind.

Fraktales wunderschönes Blumenornament
Natali-art-collections/shutterstock.com

Scheidler macht sich weitreichende Gedanken darüber, in welcher Weise Leben ein vielfältiges Beziehungsgeschehen ist. Und er zeigt auf, wie Kreativität und Evolution sich in einem permanenten Beziehungs- und Resonanzprozess entfalten. Er schließt aus all dem, dass wir Menschen die Natur, und damit auch uns selbst, oft verkennen. Wir sind uns der wundersamen Bezogenheit, in der wir leben und aus der wir sogar bestehen, nicht bewusst.

Wenn schon der Stoff, aus dem wir gemacht sind, aus Beziehung besteht, warum sieht es mit der Welt in vielerlei Hinsicht dann so schlecht aus? Fabian Scheidler macht das an verschiedenen Faktoren fest, die er zusammengenommen „die Große Trennung“ nennt. In deren Zentrum steht für ihn das oben schon erwähnte technokratische Weltbild. Dazu gehören vor allem drei Dinge: Wir Menschen schreiben dem, was man zählen und messen kann mehr „Realität“ zu, als dem, was wir subjektiv wahrnehmen und erleben. Außerdem gehört dazu die Vorstellung, dass die Welt sich ohne größere Konsequenzen zum Objekt machen, beliebig zerlegen und nach unseren Vorstellungen neu zusammenbauen lässt. Und schließlich, dass die Welt linear-planmäßig von uns gesteuert werden kann. Er zeigt auch auf, dass diese Sichtweisen die Basis für unser kapitalistisch-ausbeuterisches Wirtschaftssystem bilden.

Miniaturfiguren: Im Zahnradgetriebe des Kapitalismus steht ein Geschäftsmann auf dem Geldberg
Pixelbliss/Shutterstock.com

Obwohl diese drei ziemlich lebensfeindlichen, technokratischen Annahmen laut Scheidler alle falsch sind und sich widerlegen lassen, ist dieses Weltbild noch immer sehr weit verbreitet. Er fragt sich zu Recht, warum das so ist und findet verschiedene Antworten darauf. Bevor ich auf sie eingehe, erzähle ich euch nochmal von mir.

Tief im Innern

Ich habe in den letzten Jahren meine innere Gemeinschaft erkundet und bisher drei Frauen, einen Mann und drei innere Kinder als Teile meiner Psyche kennengelernt. Jede*r Einzelne hatte gute Strategien entwickelt, um im Leben zurecht zu kommen. Überrascht hat mich, dass viele dieser Strategien dazu dienten – und z.T. noch dienen –, andere Menschen unauffällig auf Abstand zu halten. Der spannendste Aspekt an dem Ganzen war für mich, dass es der Wille der Inneren Personen ist, und damit mein eigener Wille, dass Beziehungen oberflächlich und unverbindlich bleiben. Hier erkannte ich zum ersten Mal, wie ich subtil, aber wirkungsvoll, selbst zu der von Fabian Scheidler postulierten „großen Trennung“ beitrage. Aber es kam noch dicker.

Durch die Begleitung von Veeta Wittemann kam ich einer Inneren Person auf die Spur, die die IndividualSystemik Geheime Machtseite nennt. Bei mir ist dies eine extrem willensstarke innere Frau, die ich Yara nenne. Sie hatte sich, wie alle Geheimen Machtseiten, ganz in die Tiefen meiner Psyche zurückgezogen und war mir dadurch gänzlich unbewusst. Zu meinem Entsetzen entpuppte sich diese innere Frau, als ich sie etwas näher kennenlernte, als so etwas wie eine „Hardcore-Kapitalistin“: Die drei Grundsätze des technokratischen Weltbildes hätten ihre Idee sein können! Es ging ihr in erster Linie darum, für sich das Beste rauszuholen. Andere dafür zum Objekt zu machen und zu benutzen, war für sie kein Problem. Sie erwies sich dabei sogar als ziemlich trickreich und recht skrupellos.

Geschäftsfrau sitzt provozierend in einem schwarzen Sessel
Sergey-Chumakov/Shutterstock.com

Konkret zeigte sich das zum Beispiel in meinem exzessiven Konsum von Selbsterfahrungsseminaren und Fortbildungen. Wie ich bemerken musste, kann man auch in einem solchen Kontext – gut getarnt – ausbeuterisch unterwegs sein. Oder an meinem hohen Durchsatz von Männern, die am Ende alle nicht gut genug waren. Für Yara ist das Leben nur noch ein nicht ernst zu nehmendes Spiel. Vom eigentlichen Lebensstrom hatte sie sich schon lange völlig abgekoppelt. – Mehr über ihre Geschichte kannst du in meinen Beiträgen In Rache verbunden und Wann endet der Kampf der Geschlechter lesen.

Ich bin froh, dass ich nicht die einzige bin, die so ein böse gewordenes „Machtweib“ in sich vorfindet. Und die einen Umgang damit finden muss. Die eindrückliche Video-Reihe Die Rückkehr der Königin von Veeta Wittemann hat mir das vor Augen geführt. Mit ihren „erfrischend ungeschminkten Einsichten zur weiblichen Selbstermächtigung“ lädt sie uns Frauen ein, zur dunklen Seite unserer Macht zu stehen. Sie zeigt, wie tausende Jahre Patriarchat und herabwürdigende Behandlung durch Männer die weibliche Psyche geprägt haben. Und wie wir unseren inneren Frauen heraushelfen können aus ihrer Resignation, ihrer Wut oder aus ihrer ausbeuterischen Haltung, die sich manche – wie Yara – zu eigen gemacht haben.

Die IndividualSystemik hat eine eigene Antwort darauf gefunden, warum die technokratische Weltsicht noch immer so verbreitet ist. Wir finden den Grund in uns selbst. Es gibt starke Willenskräfte in unserer Psyche, die sich diese Weltsicht angeeignet haben, sie in verschiedener Hinsicht als vorteilhaft empfinden, und deshalb unbedingt beibehalten wollen. Und ich weiß jetzt genau, wer in mir das ist.

Unser abgekoppeltes Leben

Als technokratisch-moderne Menschen führen wir in vielerlei Hinsicht ein sehr „abgekoppeltes“ Leben. Fabian Scheidler sucht zunächst im gesellschaftlichen Kontext nach den tieferen Ursachen dafür und wird fündig. So stellt er fest, dass zum Beispiel Geld uns die Illusion ermöglicht, wir wären souveräne, unabhängige Individuen, die niemanden brauchen. Alles können wir als Objekt betrachten, halten es für käuflich, beliebig zerlegbar und benutzbar, auch Tiere und Menschen.

Die linke Hand hält Geld und die rechte hält die Welt
Adventure/ Shutterstock.com

Auch in unserer Geistes- und Kulturgeschichte findet Scheidler Spuren dafür, wie etwa die pauschale Abwertung der Natur und des Weiblichen. Einen weiteren Teil trägt unsere Bildungs- und Arbeitslandschaft bei, die schon lange und auch heute noch, auf Gehorsam und Fremdbestimmung beruht. Nicht zuletzt geht er auf die tiefen kollektiven Traumata ein, die u.a. die großen Kriege in uns zurückgelassen haben. Sie haben unsere Beziehungsfähigkeit brüchig gemacht. Das alles, so Scheidler, hat unser Erleben von Entfremdung und Getrenntsein hervorgebracht und verstärkt es immer weiter.

Mit meinem Wissen über unsere Innenwelt frage ich mich jetzt: Was war zuerst, die Henne oder das Ei? Wann und wo haben das Abkoppeln und die Entfremdung denn begonnen – in der Welt oder in uns selbst?

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Scheidler im ersten Teil seines Buches beschreibt, legen nahe, dass sich unsere Psyche – genau wie alles andere auch – in einem wechselseitigen Prozess mit der Umwelt geformt hat. Die IndividualSystemik geht analog dazu davon aus, dass unsere Innenwelt eine hoch kreative und zugleich „blinde“ Überlebens-Antwort auf die oft unwirtlichen Lebensbedingungen ist, denen wir als Menschen ausgesetzt waren. Unsere Innenweltbewohner*innen haben erstaunlich effektive Wege gefunden, um zu überleben und sich zu schützen. Und sich gleichzeitig zu behaupten in der Welt und auf sie einzuwirken. Die Frage nach der Henne und dem Ei lässt sich deshalb vermutlich nicht endgültig beantworten. Worüber sich aber eine klare Aussage machen lässt, ist die Verfassung, in der wir unsere Psyche in diesem Moment des Anpassungsprozesses vorfinden und welche Konsequenzen das hat.

Die gute Lösung und ihr Preis

Zu den „Lieblingslösungen“ unserer Inneren Personen im Umgang mit der Welt gehört es, sich zu verstecken, zu tarnen und sich von der eigenen Verletzlichkeit abzutrennen. Oder sich gleich ganz in die Tiefen der Psyche zurückzuziehen, um den direkten Kontakt mit den Menschen so gering wie möglich zu halten. Das Problem dabei ist: Haben die Inneren Personen ihre „gute Lösung“ einmal gefunden, halten sie daran fest. Kurzgefasst und etwas provokant könnte man aus individualsystemischer Sicht also sagen:

Wir führen ein abgekoppeltes Leben, weil wir es unbewusst so wollen. Dass die Welt dadurch so wird, wie sie jetzt ist, nehmen unsere Willenskräfte dabei als Nebenwirkung in Kauf oder befördern diese Entwicklung sogar aktiv.

Wie sehr das der Fall ist, haben die meisten Menschen nicht im Blick. Denn leider ist das Wissen um unsere Inneren Personen und ihre blinden Eigen-Willen noch nicht sehr weit verbreitet. Deshalb will ich diesen Aspekt noch etwas genauer beleuchten.

Innere Personen, die beschlossen haben sich dem direkten Leben ganz zu verweigern, findet so gut wie jeder Mensch in sich vor, wenn er über längere Zeit seine Innenwelt individualsystemisch erforscht. Manche von ihnen haben sich dabei regelrecht „vakuumiert“ und damit fast unerreichbar gemacht. Trotzdem bestimmen Sie von dort in weiten Teilen unser Verhalten. Ohne andere Innere Personen, die das Leben des jeweiligen Menschen konkret in die Hand nehmen, würden sie natürlich nicht zurechtkommen. Aber sie bilden es sich ein. So wie wir uns als ganze Menschen auch der Illusion hingeben, wir wären völlig unabhängige Wesen. Nimmt man das Wissen um die Geheimen Machtseiten in uns ernst, ist davon auszugehen, dass in ihrer Existenz eine der tiefsten Ursachen für das liegt, was Scheidler die große Trennung nennt.

Eine Frau öffnet die Fensterläden einen Spalt weit
Santirat-Praeknokkaew/Shutterstock.com

Es ist wichtig zu wissen, dass der Rückzug und die Entscheidungen einer Machtseite ursprünglich natürliche, verständliche Überlebensimpulse waren, die gute Gründe hatten. Mehr darüber kannst du im Beitrag Wer sind eigentlich diese Geheimen Machtseiten? lesen. Was mir für unser Thema hier zentral erscheint ist die Tatsache, dass sich die absoluten Entscheidungen, die diese Inneren Personen gefällt haben, nicht von selbst revidieren. Deshalb machen wir immer so weiter wie bisher. Es sei denn, wir fangen damit an, uns nach innen zu wenden und Licht an diese Stellen zu bringen.

Aktiengesellschaft im Inneren

Wie sehr wir unsere inneren Strukturen unbewusst in der Welt reproduzieren, wurde mir klar, als ich gelesen habe, was Fabian Scheidler zur Funktionsweise von Aktiengesellschaften schreibt: „(…) Es ergibt sich also eine Kette der strukturellen Verantwortungslosigkeit und systemischen Blindheit, die in die Tiefenstrukturen unserer Ökonomie eingebaut ist. Aus diesem Grund ist es für eine zukunftsfähige Ökonomie entscheidend, wieder Feedbackschleifen in die wirtschaftlichen Beziehungen einzuführen, die allen Beteiligten die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Handlungen unmittelbar zurückspiegeln.“ (S. 218)

Etwas Ähnliches könnte man aus Sicht der IndividualSystemik über unsere Psyche sagen. Dafür habe ich das obige Zitat frei umformuliert: „Was unsere Innenwelt angeht, stecken wir in einer systemischen Blindheit fest, die zu dem verbreiteten Gefühl von Verantwortungslosigkeit beiträgt. Diese Blindheit ist natürlicherweise in die Tiefenstrukturen unserer Psyche eingebaut. Aus diesem Grund ist es für ein zukunftsfähiges Miteinander auf der Erde entscheidend, Feedbackschleifen in unsere Beziehungen – im Innen wie im Außen – einzuführen, die allen Inneren Personen die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Handlungen unmittelbar zurückspiegeln.“

Veränderung wider Willen?

Das Herausfordernde an diesen beiden Appellen ist, dass diejenigen Personen, um die es geht, selbst gar kein Interesse daran haben, etwas zu verändern. Und zwar weder die Anteilseigner der Aktiengesellschaften noch die Geheimen Machtseiten. Es ist praktisch für sie, im Verborgenen zu agieren. Sie haben von sich aus kein Interesse, sich zu reflektieren. Warum sollten sie? Sie haben Macht und Sicherheit, sind erfolgreich im Sinne ihrer Eigeninteressen und setzen nun ihren ganzen Willen dafür ein, dass das alles so bleibt. Auch wenn dabei – sozusagen als Kollateralschaden – die Welt um sie herum untergeht. So absurd das auch sein mag.

Was also tun? Die IndividualSystemik hat zumindest in Bezug auf die Inneren Personen einen Weg gefunden, dass diese sich wahrnehmen und reflektieren können. Wenn es gelingt, sie zu erreichen und für sich selbst zu interessieren, ist eine tiefgreifende Wandlung möglich. Dafür muss man sich ihnen mit ehrlichem Interesse und einer Portion Unerschrockenheit annähern und gewissermaßen aufdrängen.

Durch diese Art direkter Ansprache ist Yara u.a. bewusst geworden, dass sie einige unverbrüchliche Entscheidungen getroffen hat. Zum Beispiel will sie ihre ureigene weibliche Schöpferinnenkraft nie mehr in die Welt geben. Und auch nie wieder mit anderen zusammen an das Gleiche glauben. Denn das ist ihr einmal zum Verhängnis geworden. Die große Trennung kommt ihr sehr gelegen.

Reflexion - Frau schaut in den Spiegel
Triocean/Shutterstock.com

Einladung zum Aufräumen

Wie ist das nun mit der Frage vom Anfang? Wenn ich zusammennehme, was ich durch die IndividualSystemik über mich und unsere menschliche Innenwelt erfahren habe, finde ich diese Antwort:

Wir hören nicht auf, unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören, weil wir Menschen unsere unbewussten (Überlebens-)Willen und ihre Entscheidungen nicht kennen. Und sie in ihrer Kraft und Wirkmächtigkeit völlig unterschätzen. Um daran etwas zu ändern, reicht ein besseres Erkennen unserer Verbundenheit nicht aus. Zumindest solange nicht, wie diejenigen Inneren Personen, die Verbundenheit aktiv verweigern, nicht direkt angesprochen und einbezogen werden.

Die IndividualSystemik tut das intensiv. In meinem Sommer-Retreat habe ich dadurch einen außergewöhnlichen Moment erlebt. Für kurze Zeit habe ich in Yara eine Ahnung bekommen, wer ich einmal war und wer ich wieder sein könnte. Ich war nah an meinem eigentlichen Ursprung, an meiner Quelle. Dort wäre ich verbunden mit dem großen Ganzen und wüsste um die großen Zyklen von Werden und Vergehen, das habe ich gespürt. Und ich bin mir sicher, aus dieser Verbundenheit heraus hätte ich sehr viel Kraft und Klarheit, eine gesunde, lebendige Welt mitzugestalten.

Vorerst hat sich Yara jedoch dafür entschieden, die Verbindung zu ihrer Tiefe wieder zu verschließen. Der Preis, den es kostet, die selbstgewählte Trennung aufzugeben, ist ihr zu hoch. Sich wieder zu verbinden würde auch bedeuten, sich ihren durch die Zeiten konservierten Gefühlen von Ohnmacht, Wut, Scham und Trauer wieder zu öffnen. Das ist für sie bislang undenkbar.

Ich verstehe jetzt besser, warum mich Fabian Scheidlers Buch so anzieht: Yaras ursprüngliche Qualitäten und Werte sind darin das Thema. Das Lesen erscheint meiner inneren Frau wie eine wunderbare Abkürzung. Sie kann dabei das, was sie ausmachen würde, einen Augenblick lang feiern und hochhalten. Allerdings ohne es tatsächlich zu leben und sich damit verletzlich machen zu müssen.

Das ist der Punkt, an dem ich stehe – und weitergehe. Denn ich glaube, dass es sich lohnt – für mich selbst und für die Welt – das innere Aufräumen fortzusetzen.

4 Gedanken zu „„Der Stoff aus dem wir sind“… und unsere blinden Willenskräfte“

  1. Liebe Rapante,

    begeistert habe ich deine Diskussion von Fabian Scheidlers Buch nun schon ein zweites Mal gelesen. An manchen Stellen, beispielsweise bei deiner Übertragung seines Textes über Aktiengesellschaften auf unsere Innenwelt, habe ich mich regelrecht ertappt gefühlt. Es ist so leicht, das Wirtschaftssystem (unser Außen) als sozial ungerecht und naturzerstörend zu verurteilen. Und es ist so schwer, unsere verborgenen Willenskräfte (unser Innen) zu enttarnen und zur Verantwortung zu ziehen.

    Auch ich trage diese Themen in mir und auch ich habe ein “Machtweib”, die das Ertappt-Gefühl schnell mit einem süffisanten Lächeln zur Seite gewischt hat. Denn obwohl sie in ihrer Tiefe weiß, dass alles miteinander verbunden ist, ist sie eigentlich ganz zufrieden mit sich und ihrer ausbeuterischen Art.

    Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Artikel, in dem Du deine Auseinandersetzung mit diesen Themen und deinen Blick aus Yara mit uns teilst! Auch die Bilder sind mit mir in starke Resonanz gegangen. Annemarie

    Antworten
    • Liebe Annemarie,
      wie schön, dass du dich in meinem Text so wiederfinden bzw. dich selbst ertappen kannst 😉. Danke, dass du schreibst, dass es auch in dir eine Frau gibt, die ihre eigenen, nicht immer Menschen- und Welt-freundlichen Lösungen für sich gefunden hat. Damit nicht alleine zu sein, darüber bin ich einfach froh.
      Das mit den Aktiengesellschaften ist übrigens eine meiner Lieblingsstellen im Text 😊. Der spannende Punkt ist ja, dass wir Menschen praktisch alle gesellschaftlichen Systeme, Ordnungen und Regelungen, die unser Leben bestimmen, selbst gestaltet und erfunden haben. Das heißt für mich, irgendwo in uns muss es jeweils eine Entsprechung zu all dem geben, sonst würden wir gar nicht auf diese Ideen kommen. Es ist sehr spannend, die Welt mit „iSys“-Augen anzuschauen, denn sie ist voll von Phänomenen, die wir bei genauem Hinschauen eben auch in unserer Innenwelt entdecken.
      Viele Grüße, Rapante

      Antworten
  2. Liebe Rapante, dein Artikel ist der Hammer! Selten habe ich den direkten Zusammenhang zwischen der inneren und der äußeren Welt so klar, so nachvollziehbar und so spannend gezeigt bekommen. Wie du das anhand des Buches von Fabian Scheidler und deines eigenen Prozesses entfaltest, die beiden Ebenen miteinander verwebst und zu einem eindeutigen und ehrlichen Schluss kommst, beeindruckt mich. Danke!

    Antworten
    • Lieber Robert,
      deine Begeisterung haut mich jetzt selber ein bisschen vom Hocker. Ich freue mich sehr, dass dir mein Beitrag so gefällt. Wenn mich ein Thema beschäftigt wie dieses, kaue ich so lange darauf herum, bis es für mich einen Sinn ergibt. An deiner Rückmeldung sehe ich, dass es mir gelungen ist, dieses Ringen und vor allem das Ergebnis davon in verständliche, klare Worte zu fassen. Da scheine ich den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben 😊 – wie schön!

      Antworten

Schreibe einen Kommentar