Die Welt in der Krise

Sind wir Opfer eines Virus oder hat das Virus etwas mit uns selbst zu tun?

Wir alle sind derzeit mit den massiven Auswirkungen einer Pandemie konfrontiert, die uns das Corona-Virus beschert hat. Bevor es richtig losging mit der Krise haben wir vom dubistviele-Netzwerk in Freiburg den Video-Vortrag von Artho Wittemann „Gute Menschen, schlechte Welt“ von 2015 angesehen und mit den Gästen darüber diskutiert. Artho beschreibt darin ein Phänomen, das angesichts von Klimawandel, Flüchtlingsproblematik, ungebremstem Wirtschaftswachstum und Globalisierung aktueller denn je ist.

Stimmt mit unserem Gutsein etwas nicht?

Artho fragt: Was hat der Zustand der Welt mit mir persönlich zu tun? Ich bin doch ein guter Mensch! Zumindest bemühe ich mich täglich darum, oder nicht? Ein guter Mensch ist einer, der will, dass es ihm selbst, den anderen und der Erde gut gehen möge. Wenn wir also eigentlich gut sind, warum gelingt es uns dann nicht, die Erde zu einem friedvollen und liebevollen Ort zu machen? 

Die gängige Antwort heißt, wir müssten nur unsere Anstrengungen verstärken. Es gibt ja schon viele gute Ansätze. Menschen unterstützen sich gegenseitig, helfen Schwächeren, engagieren sich im Umweltschutz oder im sozialen Bereich. Und viele üben sich in persönlicher Entwicklung. Das sind alles gute Bemühungen, doch führen sie seit Jahrzehnten zu keiner nachhaltigen Verbesserung. Warum das so ist, macht Artho in seinem Vortrag sehr anschaulich deutlich.

Er beginnt damit, den guten Willen in uns zu untersuchen. Auf den ersten Blick scheint alles ganz in Ordnung. Bei genauerer Betrachtung wird es aber oft uneindeutig. Was die Menschen sagen, passt mit ihrem Verhalten nicht mehr ganz zusammen, sie machen z.B. Zusagen und halten sie nicht ein. Es stellt sich ein ungutes Gefühl bei uns ein: Wir betreten eine Art Grauzone. Diese Widersprüchlichkeit kreiert unsere Psyche willentlich, um Eindeutigkeit zu vermeiden. Das gibt uns die Möglichkeit, uns unverletzlich in der Welt zu bewegen, aber auch, um unseren tiefen Willen, der oft sehr eigennützig agiert, unbemerkt durchzusetzen.

Meine eigene Grauzone

Seit ich mich tiefer auf die IndividualSystemik und die Menschen eingelassen habe, die mir unerschrocken Feedback geben, kann ich meine eigene Grauzone wahrnehmen und verstehen. Die inneren Anteile meiner Psyche verfolgen zum Teil sehr gegensätzliche Interessen und haben ausgeklügelte Strategien entwickelt, um im Leben zurecht zu kommen. 

In mir gibt es eine innere Frau, die grundsätzlich an einem guten Miteinander mit den Menschen interessiert ist und sich auch so verhält. Sie ist freundlich, offen, tauscht sich gerne mit anderen aus und lädt gerne dazu ein. So weit so gut. Nur ist es mir trotzdem nicht gelungen, dauerhaft mit Menschen zusammenzuleben, eine Familie zu gründen und in einen größeren Kreis eingebunden zu sein – trotz größter Beteuerungen!

Eine geheime innere Frau

Nachdem ich weitere, der Welt zugewandte Innere Personen entdeckt hatte, stieß ich auf eine tiefere Seite in mir, eine Frau, die sich lange zurückgehalten hat. Sie hält sich hinter den anderen verborgen. Sie ist sehr misstrauisch und pflegt ihre Urteile gegenüber den Menschen und der Welt. Sie findet überall ein Haar in der Suppe. Gleichzeitig ist auch meine vordere freundliche Seite aktiv. Das schafft in einer Begegnung immer wieder Verwirrung und Unsicherheit, nicht nur bei mir selbst, sondern auch beim anderen. Jetzt ist mir klar, das diese tiefere, einflussreiche Frau es ist, die meine offensichtlichen Bemühungen um Beziehung früher oder später zunichte macht.

Das tut sie mit großer Geschicklichkeit, indem sie sehr indirekt agiert. Manchmal nur mit einem ganz kleinen, beiläufigen, aber negativen Nachsatz. Damit ist sie fein raus, weil sie immer nur ein bisschen Salz in die Suppe streut, ohne dass es groß auffällt, nicht einmal mir selbst. Doch am Ende ist die Suppe versalzen. Völlig unbewusst, setzt sie dabei meine freundliche Frau ein, um ihr raffiniertes „Komm her, geh weg“-Spiel zu spielen. Dies ist ihr Aktionsfeld, um vorwiegend eine alte offene Rechnung mit den Männern zu begleichen. Mit ihren Verführungskünsten gewährt sie dem Mann einen kurzen Blick in ihre „Schatzkiste“, um ihn später am langen Arm verhungern zu lassen.

Wenn der Auserkorene nicht so spurt, wie sie es will, dreht sie den Spieß um und den Hahn der Zuwendung zu und bestraft ihn mit Rückzug. Wenn einer es aber wagen sollte, dasselbe Spiel mit ihr zu spielen, sie also nicht beachtet oder ihr nicht gebührend antwortet … – dann ist der Teufel los! Dann geht sie zum Angriff über: Warum meldest du dich nicht? Du bist so unbezogen, so ungreifbar, so egozentrisch … Denn sie hat sich geschworen, sich nie wieder verletzlich zu machen. In ihrer erstarrten Haltung glaubt sie, dass alle anderen ihr etwas schuldig sind. Damit kreiert sie eine Grauzone, in der sie sich indirekt mehr nimmt und einfordert, als sie selbst bereit ist zu geben.

Versteckte Ausbeutung

Artho spricht in seinem Vortrag von dieser versteckten Ausbeutung. Jeder einzelne von uns nimmt letztendlich mehr, als er zu geben bereit ist. Ein Kuhhandel mit verdeckten Karten. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Auch ich bin in meiner verborgenen Haltung geizig mit meinen weiblichen Schätzen geworden. Auch ich speise die Menschen mit Ersatzliebe ab. Wenn ich über Arthos Worte nachdenke, dämmert mir langsam, dass ich auf den ersten Blick vermeintlich etwas gebe, bei näherer Betrachtung geht es mir aber hauptsächlich um mich selbst. Ich will etwas bekommen: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Bestätigung …

Artho fächert uns das Prinzip der versteckten Ausbeutung auf und zeigt, dass dieses Phänomen nicht nur zwischen Einzelnen funktioniert. Es hat uns global an die Grenzen unseres Wirtschaftens geführt und die Erde an einen sehr kritischen Punkt gebracht. Auch als Menschheit beuten wir die Erde aus, indem wir mehr nehmen als geben. Dies tarnen wir aber wunderbar mit allerhand Glitzer und grünen Aufklebern. Das ist uns allerdings nicht bewusst, wir blenden die Ausbeutung aus.

Ausweg Selbsterforschung

Die schöne Nachricht in diesem Vortrag ist, dass wir persönlich aus diesem privaten und damit auch globalen Ausbeutungssystem aussteigen können. Dadurch, dass wir über die Methode der IndividualSystemik ein tieferes Bewusstsein über uns erlangen, bewirken wir als positive Begleiterscheinung nachhaltige Veränderungen im Innern wie im Außen.

Wir können in die verborgenen Tiefen unseres psychischen Systems eintauchen. Dort erkennen wir, dass unsere Willenskräfte in ihrer ursprünglichen Natur mehr geben wollen als nehmen. Ich ahne, was Artho damit meint, wenn er sagt, dass wir unsere eigentlichen Schätze tief vergraben haben. Dass wir vergessen haben, wo wir sie vergraben haben und schließlich sogar vergessen haben, dass wir überhaupt etwas vergraben haben!

Ich merke jedenfalls immer deutlicher, dass die eigentliche Power, die saftige Lebenslust und die Klarheit, mit der meine geheime machtvolle Frau uneindeutige Situationen instinktiv ans Licht bringen würde, in meinem Leben immer gefehlt haben. Nun übe ich mich darin, dieser Wahrnehmung wieder nachzugeben und sie auf eine Art auszudrücken, die den anderen nicht verletzt. Und ich übe, meine tiefere Haltung offenzulegen, eigene Fehler zuzugeben und um Verzeihung zu bitten. Und es ist immer wieder ein kleines Wunder für mich, wie die Spannung dann verschwindet und ein stimmiger, ehrlicher, nährender Kontakt entsteht.

Dass dieser Prozess mir persönlich Mühe und Geduld abverlangt, mitunter ungemütlich ist und immer wieder große Widerstände hervorruft, versteht sich von selbst. Seit ich aber begonnen habe, den Fokus auf meine Strategien zu richten, wie ich andere an der Nase herumführe, sie verwickle, ja benutze, komme ich mir selbst auf die Schliche.

So unangenehm das ist, merke ich doch, dass nur dieses Bewusstwerden mich im Leben und in meinen Beziehungen weiterbringt. Aber ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Ich habe erst angefangen, mich wirklich zu entdecken. Aber mit jedem kleinen Schritt werde ich freier, wahrhaftiger und bezogener. 

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