Ent-wicklung statt Verstrickung

Die IndividualSystemik hat mir die Augen geöffnet. Seitdem ich mich mit ihr beschäftige, habe ich eine Ahnung von meinen eigenen Abgründen bekommen. Deshalb spüre und verstehe ich heute auch negative Verhaltensweisen von anderen Menschen mir gegenüber viel besser. Ich kann deutlich schneller reagieren, Grenzen setzen und lasse mich weniger in Machtspiele verwickeln. Zum Glück, denn das war nicht immer so.

Endlich Erfüllung?

Vor 18 Jahren habe ich mich in einen Kollegen verliebt. Damals war ich Mitte Dreißig und seit mehr als 10 Jahren mit meinem Mann und Seelenpartner zusammen. Der Sex mit ihm war im Laufe der Jahre allerdings unbefriedigend und zur Routine geworden. So war es nicht verwunderlich, dass ich mich in einen Kollegen verliebt habe.

Mit ihm – ich nenne ihn Paul – habe ich im Bett ganz neue Seiten an mir entdeckt: Ich konnte plötzlich unkontrolliert sein und loslassen, habe meine Lust genossen und konnte nicht genug kriegen. So kannte ich mich gar nicht. Es kam mir vor, als ob meine Sinnlichkeit und Lebendigkeit aus einem langen Dornröschenschlaf erwacht wären. Endlich stand mal nicht mein funktionierender Alltag an erster Stelle. Ich konnte mir nicht vorstellen jemals wieder auf diesen leidenschaftlichen Sex mit Paul zu verzichten. Mein Dilemma war, dass es mit ihm nur im Bett funktionierte und alles andere eine jahrelange Odyssee war.

Verstrickt im unsichtbaren Machtspiel

Damals hätte ich schweren Herzens meinen Mann verlassen, um mit Paul zusammenzuleben und Kinder zu haben. Ich bin zu Hause ausgezogen und habe darauf gewartet, dass Paul auch bereit ist, diesen Schritt zu gehen, und sich von seiner Partnerin trennt. Aber es passierte – nichts. Er musste erst noch den Geburtstag seiner Partnerin abwarten, seiner Mutter konnte er das nicht antun, nicht vor Weihnachten … Er hat es nicht einmal geschafft, mit mir ein paar Tage zu verreisen.

Unangenehm wurde es immer dann, wenn mir der Geduldsfaden riss und ich das ganze Desaster und die Affäre beenden wollte, weil Paul nicht zu mir stand. Dann hat er mich per Mail oder mit Nachrichten direkt auf den Firmen-PC übel beschimpft, weil ich ihn verlassen wollte. Ich habe mich dann immer wieder auf Diskussionen eingelassen und mich – entgegen meiner Abmachung mit mir selbst – doch wieder mit ihm getroffen. Es musste doch möglich sein, mich ihm gegenüber verständlich zu machen! Es konnte doch nicht sein, dass Paul, für den ich angeblich die Liebe des Lebens war, mich so runter machte. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich damals heulend auf dem Firmenklo verbracht habe. Richtig befreiend hat sich die Ohrfeige angefühlt, die ich Paul aus lauter Verzweiflung in seinem Büro verpasst habe. Diese Wut kannte ich bis dahin auch noch nicht von mir, sie war überraschenderweise wohltuend und kraftvoll.

Happy End?

Nach mehr als sechs Jahren Hin und Her habe ich es geschafft, mich von Paul zu lösen. Der Auslöser dafür war eine sinnliche Begegnung mit einem Mann bei einem Tantra-Seminar. Dadurch habe ich verstanden, dass es nicht unbedingt Paul sein muss, mit dem ich meine Sexualität ausleben und genießen kann. Nach dieser Seminar-Begegnung konnte ich mich auch wieder neu auf meinen Mann einlassen. Aber wie es mit ihm weiterging und wie es uns heute als Paar geht ist eine andere Geschichte.

Verstehen im Nachhinein 

Was mir vor vielen Jahren mit Paul passiert ist und warum ich so lange mit ihm verstrickt war kann ich erst heute klar sehen, nachdem ich mich schon viele Jahre mit der IndividualSystemik beschäftigt und einige meiner Inneren Personen erforscht habe. Wer mich zum ersten Mal trifft hat es mit Claudia zu tun: eine freundliche, offene und gleichzeitig zurückhaltende Frau. Sie managt meinen Alltag, kann aber auch ganz still und herzlich sein, wenn man sie besser kennt. Sie hat es gern harmonisch und konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie hinhält und ausnutzt, ja dass jemand sich sogar besser fühlt, wenn er andere verletzt. Als Claudia konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass Paul mich verletzen und kleinmachen wollte und dass er genau das tat, wenn auch unbewusst.

Außerdem fehlte mir zu der Zeit eine machtvolle Kraft in meinem Inneren, die dazu Nein gesagt hätte. Tiefer in meinem System hielt sich Sputnik verborgen. Er war damals ein Mann, der sich das Fühlen so sehr abgewöhnt hatte, dass er sich selbst gar nicht mehr gespürt und sich weitestgehend vom Leben zurückgezogen hatte. Mit Menschen wollte er nichts mehr zu tun haben. Er wäre derjenige gewesen, der das subtile Machtspiel mit Paul viel früher kraftvoll hätte beenden können. Aber er wollte sich damals nicht einmischen.

Die aphroditische Frau, die Paul (wieder) geweckt hat, habe ich Selina genannt. Sie war, einmal lebendig geworden, nicht mehr zu bändigen, koste es was es wolle. Als machtvolle Reaktion hatte sie aber nur ihre Wut zur Verfügung. Erst als sie begriffen hat, dass es auch noch andere Männer gibt, mit denen sie ihre Leidenschaft leben kann, konnte sie von Paul ablassen. Und meine vordere Innere Person Claudia konnte sich wieder entspannen.

Nicht mehr Opfer

Im Gegensatz zu früher sehe ich mich heute nicht nur als Opfer der Geschichte, sondern verstehe auch, wo ich mich selbst subtil machtvoll gegenüber Paul verhalten habe: solange er mich immer wieder verletzt hat, habe ich meine tieferen Werte von Wahrhaftigkeit, Vertrauen, respektvollem und partnerschaftlichem Umgang miteinander instinktiv geschützt und damit auch zurückgehalten. Deshalb habe ich mich nie wirklich hingegeben und mich zu ihm bekannt, auch wenn mir das so vorkam. Er hat wahrscheinlich gespürt, dass ich mich nie ganz für ihn geöffnet habe und im Herzen meinem Mann verbunden geblieben bin. 

Happy End!

Vor kurzem hat mir Paul nach mehr als zehn Jahren Nicht-Grüßen per Mail ein Kompliment gemacht, um mich in der übernächsten Mail gleich wieder zu beschimpfen und zu beschuldigen. Dieses Mal hat es nur zwei deutliche und machtvolle Mails von mir bzw. Sputnik gebraucht, um mich abzugrenzen und Nein zu dieser Masche zu sagen. Früher waren es tatsächlich Tausende Mails, in denen ich bzw. Claudia versucht habe, ihn zu verstehen und mich verständlich zu machen. Zum Glück spüre ich heute viel besser, ob ich respektvoll und partnerschaftlich behandelt werde, und habe wieder Zugang zu machtvollen Seiten in mir, die klar und kraftvoll Nein sagen können. iSys-sei-Dank!

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