Filmtipp: Antonias Welt

Ich war beim Kinostart von „Antonias Welt“ 1996 schon beeindruckt. Jetzt, beim erneuten Anschauen, habe ich nochmal einen ganz neuen Blick auf diesen faszinierenden Film geworfen. Mit meinem Wissen über die IndividualSystemik erkannte ich, wie hier eine Matriarchin ihre Umwelt nach weiblichen Prinzipien gestaltet. Und das in der zutiefst unreflektierten und patriarchalen Welt eines belgischen Dorfes nach dem Zweiten Weltkrieg. Antonia geht unbeirrt ihren Weg und bleibt ihren weiblichen Werten treu. In ihr wird das Wesen weiblicher Lebensart deutlich: Einfachheit, Zusammenhalt, Schutz der Schwachen und die Achtung vor dem Leben von der Geburt bis zum Sterben.

Eine selbstbestimmte Frau

Antonia kehrt nach dem Krieg mit ihrer jugendlichen Tochter Danielle in ihr Heimatdorf zurück, um ihre Mutter zu begraben und den heimischen Hof zu übernehmen. Schon die erste Szene zeigt, dass sie keine gewöhnliche Frau ist. Stolz schreitet sie über die verdreckten Dorfstraßen und erzählt ihrer Tochter von den sozialen Verwerfungen. „Aber man hat hier wenigstens seine Ruhe“. Eine von vielen ihrer zentralen Wahrheiten, die den Film durchziehen. Schnell wird klar, dass wir es mit einer selbstbestimmten, eigenwilligen und mutigen Frau zu tun haben. Als Bauer Sebastian, auch ein „Zugezogener“, um ihre Hand anhält mit dem Satz „Meine Söhne brauchen eine Mutter“ bekommt er die schlichte Antwort: „Aber ich brauche deine Söhne nicht!“ 

Antonia hält sich auch sonst aus dem Dorfleben heraus, greift aber beherzt ein, wenn Schwache gedemütigt oder benutzt werden. So versammeln sich mit der Zeit die Außenseiter und Ärmsten der Gesellschaft auf ihrem Hof, wo alle wertgeschätzt werden: Der zurückgebliebene Willem, die von ihrem Bruder missbrauchte, behinderte Dédé. Und immer ist da auch der Philosoph und menschenscheue Intellektuelle Krummer Finger, ein Freund Antonias aus Kindertagen. 

Die Zeit geht ins Land. Die Feste im Hof haben Tradition. Danielle bekommt ein Kind, will aber keinen Mann. Auch die kleine Thérèse ist ein besonderes Kind. Sie findet in Krummer Finger einen Geistesverwandten, der ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz Nahrung gibt. Und dann bekommt die Liebe Raum. Antonia wendet sich Bauer Sebastian zu, Danielle verliebt sich in die Lehrerin von Thérèse. Später findet auch diese ihre Art von Glück und schenkt einem kleinen Mädchen, Sophia, das Leben.

Doch es gibt auch Schicksalsschläge: Thérèse wird als junges Mädchen vergewaltigt. Antonias Wut und Schmerz sind unsagbar. Auf ihre Art löst sie das Problem. Mit einem Gewehr in der Hand spürt sie den Täter auf und verflucht ihn vor den Augen der Dorfbewohner. Eine grandiose Szene über die Macht von Frauen! Die Männer erledigen den Rest. Antonia lässt aber auch ihrem Schmerz freien Lauf, eingebettet in die Gemeinschaft des Hofes. Doch sie verbittert nicht.

Eine Matriarchin gestaltet ihre Umwelt

Auch mit dem Tod geht Antonia um wie mit dem Glück: Sie nimmt ihn an, trauert, denn das Sterben gehört für sie dazu wie die Geburt. Sie ist ganz mit den Zyklen des Lebens verbunden. Mit dem Satz „Dédé, es muss gelebt werden, wie auch immer …“ macht sie sich wieder an die Arbeit. 

Das Beeindruckende an dem Film sind die Frauengestalten. Sie leben ihr eigenes Leben, gehen für das, was sie lieben, geben sich mit dem gesellschaftlichen Korsett nicht zufrieden. Sei es das Malen, die Liebe zu einer Frau, das Gebären, das Studieren, das Schreiben. Sie haben das große Glück, in einem matriarchalen Mikrokosmos zu leben, wo sie geschützt sind. Fast zu schön, um wahr zu sein. 

Antonia verspricht ihrer Urenkelin Sophia, dass sie sie ruft, wenn es mit dem Sterben bei ihr soweit ist. Eine beeindruckende Schlussszene, als sich alle um Antonias Sterbebett versammeln und sie friedlich einschläft. Vielleicht ist gerade das der Charme dieses hochgelobten Filmes, dass frau daran erinnert wird, wie ein gutes Leben sein könnte.

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