Filmtipp: Die Eleganz der Madame Michel

„Man sieht nur mit dem Herzen gut …“ heißt es im „kleinen Prinzen“. Doch der Blick des Herzens, der uns berühren und mit Menschen verbinden würde, ist vielen von uns verloren gegangen. Zuweilen leben wir mehr Schein als Sein, drehen uns um uns selbst oder hüten unsere Seelenschätze hinter einer grauen Fassade. Sicher, aber unberührbar. So zieht das Leben allerdings wie ein Film an uns vorbei. Wie finden wir dann zu unserer Lebendigkeit zurück? Wir brauchen Menschen, die uns wahrnehmen!

Der Film „Die Eleganz der Madame Michel“ erzählt von drei Menschen in einem Pariser Mehrfamilienhaus, die sich in ihrer Eigenwilligkeit bemerken. Sie beginnen, sich unverstellt aufeinander einzulassen, ungeachtet ihres ignoranten Umfeldes, das uns die Realität menschlicher Gleichgültigkeit vor Augen führt. Wir erleben, welche Seelenqualität entstehen kann, wenn wahre Begegnung gelingt.

Innen wie außen

Mich hat der Film berührt und an einigen Stellen an meine Innenwelt mit den Inneren Personen erinnert. Manche Haltung meiner Inneren Personen wurde mir widergespiegelt, unter anderem fand ich die blinde Unberührbarkeit einer Protagonistin in einer meiner inneren Frauen wieder. So befremdlich wie bei den Hausbewohnern im Film geht es eben auch in so mancher Innenwelt zu. Aber ich weiß: Innere Personen können wieder zu sich kommen, wenn sie wahrgenommen werden und sich in Beziehung wagen. Dann werden sie lebendiger, vielfältiger, wesentlicher – und wir mit ihnen. So wie die drei Hauptprotagonisten des Films.

Die Geschichte beginnt mit der 11-jährigen Paloma, die ihre Umwelt schonungslos mit ihrer Kamera filmt und den Zuschauern damit einen unbestechlichen, manchmal unbequemen Blick auf die Realität zumutet. Auf ihre Eltern, die um sich selbst kreisen und sie gar nicht wahrnehmen, ihre desinteressierte Schwester und die Nachbarschaft, die selbst ein Todesfall im Haus kaum berührt. Alle leben vielbeschäftigt nebeneinander her. Palomas Leben ist so kontaktarm wie das des Familien-Goldfisches im Glas. Eines der vielen feinsinnigen Symbole im Film, das mich begeistert und mit seiner Komik überrascht hat. Paloma führt mit ihren treffenden, manchmal witzigen philosophischen Gedankengängen durch den Film. Dabei plant die 11-jährige heimlich ihren Selbstmord, was zu allerlei skurrilen Begebenheiten führt.  

Die Eleganz der Madame Michel Filmtipp

Schein und Sein

Madame Michel, die von allen auf ihre Hausmeisterinnen-Funktion reduziert wird, bedient das Klischee der mürrischen, alten, grauen Concierge und hat so ihre Ruhe. Für Paloma ist sie jedoch die Einzige, die ihr direkte Zuwendung schenkt. Madame Michel selbst pflegt ihre eigentliche, feinsinnige Art nur im Verborgenen. Sie hat sich eingeigelt – genau wie so manche resignierte Innere Person – um ihre verletzliche Tiefe zu schützen. In der Abgeschiedenheit ihres privaten Bücherzimmers nährt sie ihre Seele beim Lesen von Literatur, mit grünem Tee und schwarzer Schokolade. Ihre Isolation führt jedoch leider dazu, dass die Vorurteile der anderen ein Teil ihres eigenen Selbstbildes werden.

Wandel durch Kontakt

Bis der neue japanische Nachbar, Herr Ozu, mit seiner Feinsinnigkeit die Ignoranz der Hausbewohner durchbricht. Er erkennt Madame Michels gebildete Art, als sie sich gegenüber einer überheblichen Nachbarin ein Tolstoi-Zitat nicht verkneifen kann. Herr Ozu bemüht sich fortan um diese kultivierte Frau hinter der grauen Fassade. Als er sie zum Essen einlädt legt sie langsam ihr Stachelkleid ab und wagt sich aus ihrem Bau. Es entwickelt sich eine berührende Herzensverbindung zwischen den beiden. Und auch Paloma findet in ihm einen Japanisch-Lehrer, der sich wirklich auf sie bezieht und ihre Meinung ernstnimmt. Die Drei erleben wahren Kontakt und dadurch ihr Ja zum Leben neu.

Tragik und Komik liegen in diesem Film nah beieinander. Sein subtiler Humor macht ihn kurzweilig, leicht und warmherzig – zugleich bleibt er tiefgründig. Die Geschichte zeigt, was im Leben wichtig ist: nicht, wie lange wir leben, sondern ob wir von einem Menschen in unserem wahren Wesen erkannt werden. Das Ende ist kein Happy End – und doch ein Plädoyer für den besonderen Wert von Beziehung im Leben. Es ist ein Film, der noch lange in mir nachgewirkt hat.

4 Gedanken zu „Filmtipp: Die Eleganz der Madame Michel“

  1. Liebe Devaka,

    danke für deine Antwort.

    Das ist ein schöner Satz, den du schreibst: „Der Humor in den Details verschmilzt gekonnt mit der Tiefsinnigkeit.“ Ja, ich glaube, dadurch, dass der Film durch die wachen Augen von Paloma das Leben so detailliert einfängt, wird der Humor und auch die Skurilität, die den Menschen und dem Leben innewohnen, so intensiv spürbar. Ich glaube, wenn wir „mehr Paloma wären“, könnten wir das auch mehr erleben – zumindest lädt der Film dazu ein, finde ich.

    Ich habe noch ein wenig über deine und meine Gedanken zu „Anpassung“ und „Glück“ sinniert und sie auf dem Hintergrund von „Innerer Person“, „Wille“ und „Liebe“ betrachtet. Das stimmt, das sukzessive Aufbauen der Reaktionsschichten der Inneren Personen ist ja letztlich eine „natürliche“ Anpassungsbewegung des Willens auf das, was die Menschen und das Leben einem so angedeihen lassen und abverlangen. Und in der patriarchalen Gesellschaft hat das für Innere Frauen eine ganz eigene Dynamik und Not-wendigkeit von Anpassungsintelligenz gehabt. Wie du sagst, darüber verliert die Innere Person häufig ihre Anbindung an ihr Herz.

    Letztlich landen wir wieder bei dem Punkt: Wenn sehr viel vermeintliches „Glück“, „Lust“ oder Bequemlichkeit in den Reaktionshaltungen stecken, dann ist die Motivation nicht so groß, zum verletzlichen Herzen zurück zu finden.

    Deshalb ist es glaube ich, gut, wenn die „glücklichen Familien“ erst mal zu ihrem „unverschämten“ Glück stehen, die Begrenzungen davon bemerken und zu sich auf den Weg zurück zu ihrem Herzen machen. Und, wie du schreibst, das macht, glaube ich auch, erst mal „unglücklicher“ – einfach, weil es unbequemer ist, Angst macht und einen Verzicht mit sich bringt.

    Anhand des Filmes könnten frau und man noch so einiges diskutieren 🤓

    Liebe Grüße,
    Tilda

    Antworten
    • Liebe Tilda,

      danke für Deine weitere Auffächerung zum Thema „Anpassung“ und „Glück“. Das empfinde ich genau so wie Du schreibst.

      In Deiner Antwort an mich schreibst Du noch den Satz:
      „Und in der patriarchalen Gesellschaft hat das für Innere Frauen eine ganz eigene Dynamik und Not-wendigkeit von Anpassungsintelligenz gehabt.“
      Mir gefällt darin Dein Begriff weibliche „Anpassungsintelligenz“. Da fühle ich den Stolz meiner Inneren Frau über ihre Intelligenz. Es ist so eine Stelle zur eigene Lösung zu stehen. Dazu muss frau aber erst mal aufhören, die Anpassung selbst abzuwerten und zu verbergen. Und da sind wir bei dem wertfreien Blick durch „Palomas Kamera“, den ich so wertvoll empfinde. Mich ermutigt der Film zu dieser Perspektive.

      Erst dann kann sich frau dem K(n)ackpunkt 😉 nähern:
      Im Glück das Unglück bewusst erleben.

      Danke Dir für Deine Inspiration.

      Liebe Grüße
      Devaka

      Antworten
  2. Liebe Devaka,
    vielen Dank für deine lebendige und einladende Rezension zu diesem wunderschönen Film.
    Es gefällt mir, wie bildhaft du uns durch den Film führst und wie in deinen Worten sowohl der Film als auch du selbst lebendig wirst in deiner eigenen Sehnsucht nach menschlicher Begegnung. Das ist schön zu spüren und das freut mich.
    Ich habe den Film durch deinen Impuls nun nach einigen Jahren wieder für mich entdeckt und dieses Mal mit anderen Augen gesehen.

    Ich musste immer wieder innehalten um ausgiebig zu lachen, die tiefsinnige Symbolik auf mich wirken zu lassen und eine Runde zu weinen – im Herzen verbunden mit diesen drei eigenwilligen Menschen. Ich finde es wunderbar, wie schnörkellos, einfach und klar Muriel Barbery von dem Einfachsten und zugleich Schwierigsten für uns Menschen erzählt – der direkten, liebevollen Begegnung. Darin entwickelt der Film, wie du schreibst, eine große Intensität, die wirklich außergewöhnlich ist.

    Spannend finde ich, dass Madame Michel und Paloma als „verrückt“ gelten und nicht ins gängige Schema passen. Dabei ist ihr Schutz milder und ihr Zugang in ihre Tiefe zugänglicher als die der anderen „edleren“ Hausbewohner*innen. Die „Gesetze des Herzens“ setzen sich über „Norm“, Herkunft, Alter und Einkommensverhältnisse hinweg.
    So bedarf es tatsächlich „nur“ der liebevollen Begegnung des menschlich kultivierten Herrn Ozu, damit Madame Michel zu ihrer Liebe und ihrem glücklichen Herzen zurückfindet und Paloma sich endlich gesehen, verstanden und in Verbindung fühlen kann.

    „Alle glücklichen Familien gleichen einander, alle unglücklichen Familien sind auf eigene Art unglücklich“ – und wenn das Lebens-Glück sie küsst, dann werden die Unglücklichen auf ihre eigenwillige Art glücklich.

    Danke, liebe Devaka, für diese schöne Inspiration!

    Liebe Grüße,
    Tilda

    Antworten
    • Liebe Tilda,

      wie schön, dass der Filmtipp Dich inspiriert hat. Danke für Deinen tollen Kommentar.

      Auch mir ist es beim mehrmaligen Schauen so gegangen, dass ich immer wieder Neues bemerkt habe. Der Humor in den Details verschmilzt so gekonnt mit der Tiefsinnigkeit. Es ist einer meiner Lieblingsfilme.

      Was Du schreibst finde ich einen spannenden Aspekt:
      Die „edleren“ Hausbewohner sind weit mehr entkoppelt von ihrer Liebe als die „Ungewöhnlichen, scheinbar Verrückten“. Vielleicht verhält es sich so: Je entkoppelter das Herz ist, desto angepasster erscheinen die Menschen.
      So scheint es auch mit unseren Inneren Bewohnern zu sein. Der Verlust der eigene Herz-Verbindung ist der Preis für die Anpassung an die gesellschaftliche Norm und die Tarnung dessen, was man wirklich fühlt. Nur indem wir weniger fühlen können wir unsere Illusion von Glück aufrecht erhalten.

      Vielleicht müssen die glücklichen Familien erst mal unglücklich werden, um dann zu ihrem wahren Glück finden zu können.
      Dieser Gedanke stimmt mich zuversichtlich. Danke für Deine Anregung.

      Liebe Grüße
      Devaka

      Antworten

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