Meine alten Tagebucheinträge sind über Jahrzehnte voll von Sehnsucht, Hadern und Zweifeln. Irgendwie fehlte immer etwas, etwas Wichtiges. Aber wenn dies oder das anders wäre, würde ich mich vielleicht besser fühlen. Oder ich sollte besser das machen oder dort leben, mich auf jene Art ernähren oder aktiver werden. Wahlweise auch ruhiger. Oder ganz anders. Aber funktioniert das dann? Und was ist überhaupt wirklich wichtig? Geht es mir nicht eigentlich gut? Und wenn nicht, liegt es nicht einfach an meinen Maßstäben? Okay, ich kann Nähe nicht aushalten, aber immerhin habe ich Familie und einen tollen Beruf. Was ist denn mein Problem? Ja, was?
Abgeschaltet
Das Grundgefühl meines Lebens war eines großer Anstrengung. Ich hatte so viel Stress und Anspannung, für die oft kein ausreichender Grund erkennbar war, gegen die auch kein Zureden und schon gar kein positives Denken halfen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich abschalte, wenn ich bei meiner Mutter bin. Ich erkannte, dass ich meine ganze Kindheit und Jugend hindurch abgeschaltet war. Das zog sich durch alle Bereiche meines Lebens. Nichts fühlen, wie auf Autopilot. Nur allein im Wald war es gut. Ich hatte keine Freundinnen. Ich habe funktioniert, ohne zu wissen, wie es mir dabei eigentlich geht. Und ich habe vorausgesetzt, dass andere Leute es besser wissen und machen. Und habe sie genau beobachtet und ihr Verhalten und ihre Werte kopiert. Wenn ich nicht aufpasse, mache ich das heute noch.

Aber ich wusste nicht warum und ändern konnte ich es auch nicht. Mit mehr Selbsterforschung habe ich gemerkt, dass in der Anspannung und dem gestressten Gefühl Sätze liegen: „Wieso konntest du das nicht anders machen!“, „Sei nicht so .…!“, „Da hättest du dich durchsetzen müssen!“, „Wie erbärmlich von dir!“. Aber warum? Und bin ich das oder habe ich diese Verurteilungen nur „gelernt“ und könnte sie demnach ablegen? Trotz vielfältiger und langjähriger Arbeit an mir hatte sich das leider nicht wirklich verändert.
Und natürlich war ich nicht nur freundlich und angepasst. In Konfliktsituationen konnte ich auch äußerst treffsicher und ohne Rücksicht auf Verluste verbal zuschlagen. Dann war Schicht im Schacht. Leider hatte ich keine Kontrolle und kein Maß darin. Freunde habe ich mir damit auch nicht gemacht. Das hat mit den Jahren zum Glück abgenommen, aber konstruktiv abgrenzen konnte ich mich nicht.
Meine beiden Lebensmanager
Die Wende kam mit der IndividualSystemik. Ich habe die junge Frau, ich nenne sie mal Pina, kennengelernt, die als eine meiner Hauptstimmen in meinem vorderen Raum lebt.
Hauptstimmen werden die Inneren Personen genannt, die unser alltägliches Leben hauptsächlich gestalten. Dabei wird unterschieden zwischen den Hauptstimmen, die unser sogenanntes Empfangskomitee bilden und den direkten Kontakt mit der Welt gestalten. Und den Hauptstimmen, die eher aus der zweiten Reihe oder in besonderen Situationen in Aktion treten. Da Pina vorne ganz alleine steht, begegnen Menschen immer ihr zuerst. Das heißt, sie muss auch mit jeder Situation und mit jeder Art Mensch umgehen. Sie versucht das, indem sie freundlich ist und sich bemüht, Harmonie herzustellen. Das hat mir als Kind in meiner Familie geholfen. Da sie aber keine Vorstellung von gutem Kontakt hatte, blieb das meist sehr oberflächlich. Angestrengte Harmonie eignet sich auch nicht, wo Kampf und Durchsetzung gefragt wären. Also zog sie oft den Kürzeren. Und schaltete sich ab, um das nicht zu fühlen.
Für die Verbalattacken war eine andere Hauptstimme, ein Mann „aus der zweiten Reihe“, den ich mal Bruno nenne, verantwortlich. Er hat sich immer nur kurz eingeschaltet, um sich dann wieder zu verziehen und es ihr zu überlassen, die Scherben aufzukehren. Und sie für ihre Art, ihre Unzulänglichkeit, zu kritisieren. Er tat es, um mir zu mehr Durchsetzung zu verhelfen und mich zu schützen. Bruno hat ständig und misstrauisch sein Gegenüber geprüft und alle an seinen strengen Werten gemessen. In meiner Kindheit konnte ich mir dank seiner besseren Argumente mehr Raum verschaffen. Zum Beispiel etwas doch noch bekommen, was ich wollte, wenn es mir mit vorgeschobenen Argumenten verwehrt wurde, was oft der Fall war.
Als ihm bewusst wurde, dass er selbst nicht besser und sein ständiges Prüfen nicht sinnvoll war, hat er sich sehr verändert. Ich erfahre von ihm jetzt tatkräftige Unterstützung. Er sagt Sachen wie: „Lass mal, ich mach schon“, „Du brauchst dich nicht anzustrengen“ oder „Gut so!“. Er stellt seine Kraft und guten Rat zur Verfügung und geht jetzt auch selbst konstruktiv in Kontakt. Das ist ein ganz anderes Lebensgefühl!
Unvermutete Macht
Aber auch Pina übt auf eine Art Macht aus. Um Verletzung zu entgehen. Um zu vermeiden, dass sich bei ihr bedient wird. Das war mein Erleben in meiner Kindheit, und das sucht sie seither mit allen Mitteln zu verhindern. Sie tut es in indirekter Weise, indem sie ihren Charme einsetzt, um zu bekommen, was sie will. Aber viel öfter und schwerwiegender, indem sie z.B. nur so tut, als sei sie einer Meinung, um sich zu schützen vor weiterer Verletzung. Oder mit einer Art, kindlich und hilflos zu wirken, statt ihre Bedürfnisse klar zu äußern.
Am meisten erstaunt hat mich, dass sie zum Schein liefert, was Leute ihrer Meinung nach haben wollen, ohne etwas von sich zu geben. Sie tut das absichtlich und ist stolz drauf, und doch war es mir total unbewusst. Dass viele Leute dann abdrehen und sie allein ist, hat sie früher in Kauf genommen bzw. gar nicht gemerkt. Es war automatisch. Einen guten, nährenden, herzlichen, wertschätzenden Kontakt kannte und erwartete sie ja nicht.
Ausblick
Ich arbeite daran, eigene Entscheidungen zu fällen, die auf meinen eigenen Werten basieren. Diese muss ich oft erst finden und formulieren. Pina hat ihren eigenen Willen entdeckt und kann ihn daher jetzt auch äußern. Sie sagt jetzt oft: „Nein, das ist okay, wie ich das mache“. Oder: „Es ist mir egal, ob das so am Besten ist, ich will es so.“ Sie kann jetzt freier nein sagen. Sie lässt sich nicht mehr so leicht von Bruno unterkriegen. Dadurch habe ich viel mehr Freiheit, Flexibilität und Selbstbewusstsein gewonnen. Es erweitert meinen Handlungsspielraum im Alltag.
Das Bewusstwerden macht den Unterschied. Bewusst kann ich auch schauen, ob und mit wem es sich lohnen würde, das Risiko von Verletzung einzugehen, statt per Autopilot alles abzuwehren.

Allerdings merken Pina und Bruno auch, dass ihre neu gewonnene Freiheit sehr begrenzt ist. Inzwischen weiß ich, dass es weiter hinten in meinem System auch noch eine andere Willenskraft gibt, die den beiden starke Grenzen setzt. Sich immer dagegen stemmen zu müssen, ist für meine enorme Anstrengung verantwortlich. Bei dieser sogenannten Geheimen Machtseite handelt es sich um meine Matriarchin, die mit der Welt ganz abgeschlossen hatte und jede Beteiligung verweigert. Ich erkenne sie mittlerweile an einer ganzen Reihe von Strategien. Sie entscheidet am Ende, was geht, oder vielmehr, was nicht geht. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal in diesem Blog.
Ich bleibe dran, es lohnt sich!