Als wir vor ein paar Monaten beschlossen haben, uns im Blog mit Macht und Verletzlichkeit zu beschäftigen, konnten wir noch nicht ahnen, dass die Corona-Krise genau jetzt diese beiden existenziellen Themen unseres Menschseins so sehr an die Oberfläche bringen würde.
Die meisten Menschen spüren deutlich wie lange nicht, dass sie verletzlich und sterblich sind. Das aktiviert automatisch unsere Überlebenskräfte. Als Menschheit sind wir seit Jahrmillionen machtvoll genug, um immer wieder zu überleben. Auch jetzt, im Umgang mit dem Corona-Virus entwickeln wir als Einzelne und als Gesellschaft sehr schnell Handlungsstrategien und Maßnahmen, die uns schützen sollen. „Mit aller Macht“ stellen wir uns der Krankheit entgegen. Welche kurzfristigen Auswirkungen, langfristigen Folgen und ungeahnten Nebenwirkungen unser machtvolles Handeln haben wird – und ob wir diese im Nachhinein als positiv oder negativ bewerten werden – können wir heute noch nicht abschätzen.
Was heißt hier eigentlich machtvoll?
Vielleicht bist du darüber gestolpert, dass ich unser menschliches Handeln als machtvoll bezeichne. Viele Begriffsdefinitionen zum Wort „Macht“ klingen kurz gefasst ungefähr so: Macht haben heißt, anderen Menschen den eigenen Willen aufzwingen zu können, auch gegen deren Widerstand. Kein Wunder also, dass Macht oft negativ bewertet wird. Machtvoll zu sein wird damit gleichgesetzt, über andere zu herrschen, sie zu benutzen und eigene Interessen durchzudrücken. Und da ist ja durchaus etwas Wahres dran, wir erleben und sehen es täglich in der Welt. Aber ist Macht wirklich nur negativ?
Die IndividualSystemik fasst den Macht-Begriff weiter: Als Mensch habe ich Macht, wenn ich den Willen, die Kraft und die Fähigkeit habe, etwas zu entscheiden und zu gestalten, also zu „machen“.
Und das kann jede*r. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Macht ist auch unsere Überlebenskraft, die uns ermöglicht, in einer Welt zurecht zu kommen, die Gefahren in sich birgt. Machtvoll sein zu können, ist – aus individualsystemischer Perspektive betrachtet – also erstmal etwas Gutes. Es macht allerdings einen sehr großen Unterschied, wie und warum wir Macht einsetzen.
Auf die Absicht kommt es an
Mit Hilfe der IndividualSystemik können wir die Motive und Haltungen, aus denen heraus wir machtvoll handeln, präzise erforschen. Gerade die tieferen Haltungen unserer Psyche sind uns zunächst fast immer unbewusst. Gleichzeitig haben sie aber einen ganz entscheidenden Einfluss auf die tatsächlichen Wirkungen all unserer Handlungen und Bemühungen.
Wenn wir genau untersuchen, Wer in uns machtvoll handelt, können wir herausfinden, aus welcher Haltung und mit welcher Absicht er oder sie das tut. Auf verblüffende Weise verstehen wir uns dann auf einmal selbst. Wir erkennen, warum bestimmte Dinge in unserem Leben funktionieren und andere nicht (obwohl wir uns doch so sehr darum bemühen).
„Alles locker?“ oder: Verborgene Absicht in der Tiefe

Die IndividualSystemik geht davon aus, dass unsere Psyche aus verschiedenen inneren Anteilen besteht, den „Innere Personen“. Wenn wir eine davon kennenlernen, sehen wir zunächst ihre Oberfläche. Diese ist bei den Inneren Personen, die für unsere alltäglichen Kontakte verantwortlich sind, meist mehr oder weniger freundlich. Zum Beispiel könnte es sein, eine bestimmte Innere Person ist immer besonders gut gelaunt. Kommt man ihr aber näher, kommen unter Umständen weniger vorzeigbare Eigenschaften und entsprechende Haltungen zum Vorschein: Die gute Laune verwandelt sich vielleicht und überraschender Weise in ein machtvolles „Hau ab!“. Womöglich ist die gute Laune also dazu da, sich andere Leute vom Leib zu halten. Der alltägliche Kontakt mit diesem gut gelaunten Menschen kann sich leer oder doppelbödig anfühlen, denn oft nehmen wir unbewusst auch die tieferen Absichten voneinander wahr – und reagieren darauf.
Aber warum sind Innere Personen so? Gehen wir mit ihnen bis in ihre Tiefe, kommt dort etwas sehr Wertvolles und zugleich Verletzliches zum Vorschein – ihr ureigener Kern, ihre ursprüngliche Liebe, ihre „Essenz“. So schützt also fast jede Innere Person mit einer machtvollen Oberfläche ihre verletzliche Tiefe.
Verletzlichkeit ist, wo es weh tun kann
Kein Mensch hat gerne Schmerzen – weder körperliche, noch seelische. Das geht auch den Inneren Personen so. Daher haben sie, wie oben beispielhaft beschrieben, unbewusst Schutzschichten entwickelt. Mit automatisierten Mustern und Strategien versuchen sie schmerzliche Erfahrungen und Gefühle zu vermeiden. In der IndividualSystemik werden diese Schutzschichten „Reaktionshaltungen“ genannt. Durch sie entsteht ein Abstand zu den Menschen und zur Welt, der das Gute, die Liebe und den Kern der Inneren Person bewahren soll. Niemand mehr soll ihr Bestes schmerzlich ausnutzen, missbrauchen oder ignorieren können. Das führt zu chronischen Nein-Haltungen, die leider auch unerwünschte Nebenwirkungen haben (siehe Die Welt in der Krise). Denn gerade unsere Verletzlichkeit macht uns menschlich und berührbar. Beziehungen ohne Berührbarkeit bleiben kalt und leer. Das ist der Preis, den jede Innere Person bezahlt, wenn sie ihre Verletzlichkeit – und damit ihre Essenz – dauerhaft verbirgt.
Fürsorge in der Innenwelt – Umgang mit inneren Kindern

Neben erwachsenen Personen gibt es in unserem Inneren auch Kinder (meistens sind es mehrere 😊). Sie haben nicht die gleiche Gestaltungsmacht wie die Erwachsenen und sind in besonderer Weise auf Schutz, Fürsorge und persönliche Zuwendung angewiesen. In diesem Sinne sind sie verletzlich. Meistens werden die inneren Kinder von anderen, erwachsenen Inneren Personen geschützt. Manchmal passiert es, dass sie „zu ihrer eigenen Sicherheit“ weggesperrt werden und ihre Qualitäten in unserem Leben dann fehlen. Ein wirklich guter Lebensraum für die inneren Kinder entsteht nur, wenn die machtvollen Inneren Personen sich ihrer Macht bewusst sind und sie zum Wohle des Ganzen einsetzen. Das ist einer der Gründe, warum die IndividualSystemik sich in ihrer Arbeit hauptsächlich auf die Erforschung der machtvollen Inneren Personen konzentriert und nicht in erster Linie mit den inneren Kindern arbeitet.
Machtunterschiede oder: Wer hat das Sagen?
Doch auch die erwachsenen Inneren Personen sind nicht alle gleich machtvoll. So kann sich vermutlich eine kämpferische Amazone besser durchsetzen als eine verträumte junge Frau, ein abenteuerlustiger Eroberer selbstverständlicher als ein philosophisch begabter, geistiger Mann. Ihrer jeweiligen Natur gemäß haben nicht alle Inneren Personen gleich viel Kraft und Macht zur Verfügung.
Sie leben in einer systemischen, sich selbst organisierenden Ordnung miteinander. Die Schwächeren sind darauf angewiesen, dass die Stärkeren ihre Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigen, damit es ein gutes Miteinander im Inneren gibt. Doch das ist – genau wie in der Welt – leider nicht von alleine der Fall. Denn wie die IndividualSystemik in faszinierender Detailarbeit herausgefunden hat, leben die mächtigsten unserer Inneren Bewohner*innen verborgen in der Tiefe der Psyche – und bestimmen von dort den Spielraum, den die anderen Inneren Personen haben.
Die Mächtigsten leben im Verborgenen
Die machtvollsten, nur noch aus dem verborgenen agierenden Inneren Personen werden in der IndividualSystemik Geheime Machtseiten genannt. Sie haben den stärksten Willen und die größte Unabhängigkeit von allen. Und sie haben eine absolute Entscheidung getroffen: Sie wollen nie wieder direkt mit der Welt zu tun haben. Denn sie alle haben schlechte Erfahrungen gemacht. Manche haben diese Rückzugsentscheidung aus Not getroffen. Andere haben sich sogar Rache geschworen. Im Verborgenen lenken die Geheimen Machtseiten unser Leben, ohne dass sie sich selbst oder wir als Ganze uns dessen bewusst sind. Das Tragische: ihre eigentliche, ursprüngliche Kraft fehlt in unserem Leben.
Das Wissen um die Existenz der Geheimen Machtseiten und die Möglichkeit, mit ihnen zu arbeiten, ist das besondere Geschenk der IndividualSystemik und das Herzstück dieser Arbeit. In einigen Erfahrungsberichten hier im Blog findest du Geschichten über Geheime Machtseiten und ihre Schritte zurück ins Leben. Weitere Beiträge, die das Thema vertiefen, werden folgen.

Macht und Verantwortung
Wir haben keinen Einfluss darauf, welche Inneren Personen wir in uns vorfinden und welche Haltungen sie entwickelt haben. Selbst wenn diese negativ sind, haben wir daran keine „Schuld“. Aber wir sind verantwortlich dafür, wie unsere Inneren Personen ihre Macht in uns und in der Welt einsetzen. Und damit auch für die Auswirkungen ihres Handelns, für die sie selbst oft blind sind. Die Erkenntnisse der IndividualSystemik fordern uns auf, gerade unsere unangenehmen, verborgenen Seiten ungeschminkt in den Blick zu nehmen und vollständig ins Bewusstsein zu bringen.
Dann können wir frei entscheiden, ob wir unsere Macht weiterhin einsetzen wollen, um über andere Menschen und die Natur zu herrschen – oder ob wir sie benutzen, um für und mit anderen zum Wohle des Ganzen zu handeln.
Licht ins Dunkel bringen
All diese Phänomene und Zusammenhänge hat die IndividualSystemik intensiv erforscht. Sie hat Wege gefunden, die Inneren Personen mit ihrer Oberfläche und Tiefe, ihrer individuellen Macht und Verletzlichkeit kennen zu lernen. Und durch sie ist es möglich geworden, unserer verborgenen Macht auf die Spur zu kommen und unsere stärkste Kraftquelle zurückzugewinnen.
Als ganzer Mensch kann ich dann kraftvoll, eindeutig und direkt Ja und Nein sagen zu dem, was mir im Leben begegnet. Und das ist ein Geschenk – für mich selbst und für die Welt.
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