Schon lange laufe ich mit dem Gefühl durchs Leben, dass ich oft nur „so tue, als ob“: Ich tue so, als ob ich kompetent im Job bin, ich tue so, als ob ich eine gute Freundin bin und ich tue so, als ob ich mich über ein Geschenk freue, dass mir eigentlich gar nicht gefällt. Als sei mein Leben eine Art Fake, eine große Ich-tue-so-als-ob-Party.
Klar gibt es da auch Momente und Zeiten, in denen sich mein Leben intensiv und echt anfühlt. Vor allem während und nach einem der vielen verschiedenen Selbsterfahrungsseminare oder Workshops, die ich so gerne mache. Dann denke ich, doch, ich gehe aufrichtig, authentisch und verbunden durch mein Leben. Ich fühle mich ganz nah dran an dem, wovon die Vision der Hopi spricht.
Nur komisch, dass das dann zuhause oft ganz schnell wieder „verschwindet“. Ich denke naja, im Alltag ist das halt schwieriger. Und wenn die Menschen um mich herum anders wären, wäre es bestimmt auch viel leichter für mich, in dem ausgeglichenen Zustand zu bleiben, den ich in den Seminaren erlebe.
Ich komme mir selbst auf die Spur
Vor ein paar Jahren lande ich eher zufällig in meiner ersten IndividualSystemik-Sitzung. Und schon bald stellt sich heraus: Mein Gefühl, nur so zu tun als ob, stimmt! Ich bin überrascht, wie sehr mich diese Erkenntnis erstmal erleichtert. Mein komisches Gefühl hat einen realen Hintergrund: Ganz vorne in meinem inneren System, sozusagen als Begrüßungsperson, ist eine junge Frau, die fast alles kann (oder zumindest so tun kann als ob!) und die mein Leben mit viel Einsatz organisiert. Ich nenne sie Frau Supertoll. Bald stellt sich heraus, dass das alles für sie wahnsinnig anstrengend ist. Wenn sie etwas tiefer in sich selbst einsinkt – was im Kontakt mit meiner Begleiterin mit der Zeit immer leichter möglich ist – taucht eine große Müdigkeit und Traurigkeit in ihr auf. Wenn sie nicht so sehr damit beschäftigt wäre, mein Leben zu regeln, wäre Frau Supertoll ganz anders: mehr wie eine kleine Elfe die mit Freude durch die Wälder streift. Warum sie das nur äußerst selten tut, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
In den folgenden Jahren entdecke ich weitere Innere Personen in mir: Eine sinnliche Frau, einen naturverbundenen Mann und zwei Kinder, von deren Existenz ich nichts geahnt habe. Wenn ich mein Leben anschaue, kann ich sehen, dass ihr Wille und ihre Kraft schon immer mitgewirkt haben. Jetzt können sie sich offener und bewusster einbringen – das ist ein großer Schatz für mich.
Wo ich heute stehe
So tun als ob kann ich (leider) trotzdem noch gut. Seit zwei Jahren weiß ich, dass dafür eine machtvolle Frau in meinem inneren System verantwortlich ist. Sie hat sich entschieden, ihren Willen nicht mehr offen, sondern nur noch indirekt und manipulativ auszudrücken. Dafür benutzt sie auch meine anderen Inneren Personen. Sie ist der Grund, warum meine kleine Elfe nur so selten entspannen kann und immer supertoll sein muss. Inzwischen kann ich spüren, dass diese Frau eine tiefe Verletzung trägt, die sie selbst nicht mehr sehen und vor allem nicht mehr fühlen will. Dort hänge ich in einem alten Film fest, habe sogar Rache geschworen. Aber von all dem soll niemand etwas mitbekommen – nicht mal ich selbst. Lieber unberührbar bleiben und weiter so tun als ob. Obwohl ich die negativen Auswirkungen dieser Haltung auf mein Leben immer bewusster wahrnehmen kann, verändert sie sich nur sehr langsam.
Ich bin also mitten drin in dem Prozess, von dem der Hopitext spricht: Ich schaue mir meine Schatten und Dämonen an. Das ist manchmal anstrengend. Trotzdem bin ich unglaublich froh, für mich einen Weg gefunden zu haben, mit dem ich mir selbst auf die Spur kommen kann. Manchmal schaffe ich es, mich nicht mehr größer oder kleiner zu machen als ich wirklich bin und aus meinem inneren Film auszusteigen. Das sind meine Sternstunden, denn dann bin ich da. Endlich findet mein Leben mit mir statt.
Hallo Rapante,
Ich hab gerade deinen Blogbeitrag durchgelesen und finde mich selber schon in den ersten Sätzen wieder. Das mit dem „so tun als ob“ ist mit auch nicht fremd. Spannend und mutig finde ich es, dass ihr Euch so intensiv damit beschäftigt. Das bringen nur die wenigsten Menschen wirklich fertig. Ausreden gibt es dafür ja jede Menge und an der Oberfläche zu schwimmen ist leichter als in die Tiefe zu tauchen. Es liest sich jedenfalls spannender und sprachlich besser als mein letzter Kriminalroman. Da muss ich mich doch mal vom Fernseher losreißen und mir die anderen Artikel zu Gemüte führen – den mit den Männern…
Liebe Karin,
was für ein schöner Kommentar von dir auf meinen Beitrag! Das freut mich sehr, dass dir mein Text gefällt und du dich darin sogar wiederfinden kannst. Das ist spannend, dass du das auch so gut kennst, das so-tun-als-ob. Für mich ist es eine Erleichterung, dass das langsam weniger wird und ich mich etwas „echter“ in meinem Leben erlebe. Und ja, das in die Tiefe tauchen ist manchmal schon Knochenarbeit und nicht jede*r ist so „verrückt“, das zu machen. Aber mir gibt es Sinn, das zu tun! Und ich bin froh und dankbar, dass meine Lebensumstände so sind, dass ich dafür genug Zeit und auch die passenden Menschen gefunden habe. Das ist wirklich ein Geschenk für mich. Ich bin gespannt, wie dir meine anderen Beiträge gefallen. Viele Grüße!