Sind Frauen nur Opfer?

Veeta Wittemanns Video-Reihe Die Rückkehr der Königin hat mir auf einer tieferen Ebene die Augen geöffnet: Jede Frau kennt es, das Opfer männlicher Macht geworden zu sein. Die weitreichenden Folgen dieser Ohnmachtserfahrungen in der Psyche von Frauen erkenne ich erst langsam: Sie haben uns auch zu Täterinnen gemacht. 

Die Jahrtausende alte Unterdrückung des Weiblichen durch das Patriarchat hat Spuren in uns hinterlassen. Früher dachte ich immer: „Was haben sie denn bloß, diese Feministinnen? Uns geht’s doch gut!“ Ich pflegte meine Urteile vielen Frauen gegenüber. Und habe mich mit Männern immer besser verstanden. „Frauen sind geschwätzig, oberflächlich, ja hinterhältig und manipulativ“, dachte ich. „Oder sie sind nett, vordergründig rücksichtsvoll, hilfsbereit und total angepasst.“ Auf jeden Fall bekommen sie hintenherum, was sie wollen. Und sie haben mit der Sexualität ein machtvolles „Werkzeug“ in der Hand. Sie setzen es mehr oder weniger bewusst ein, um Männer gefügig zu machen oder in ihre Schranken zu verweisen. „Ich bin so nicht“, dachte ich. Inzwischen sehe ich: Ich mache das genauso, nur subtiler und besser getarnt. 

Was hat das mit mir zu tun?

Meine persönlichen Beziehungen zu Frauen sind von Misstrauen und Konkurrenzdenken geprägt. Kraftvolle, selbstbewusste Frauen schüchtern mich ein. Gleichzeitig faszinieren sie mich. Lange habe ich mich von ihnen ferngehalten. Neuerdings gehe ich in einen meist indirekten Kampf mit ihnen. Auf der anderen Seite fühle ich mich sehr zu fürsorglichen Frauen hingezogen. In ihrer Nähe fühle ich mich sicher und werde emotional genährt.

Inzwischen nehme ich auch die gesellschaftliche Ebene anders wahr als früher: Sie ist nach wie vor vom Patriarchat geprägt. Das männliche Denken gibt oft den Maßstab vor und Frauen werden in ihrer ursprünglichen weiblichen Kraft nicht geschätzt. Doch nicht nur das! Wir Frauen haben unsere Kraft selbst verdrängt, sie unterdrückt und aus der Welt zurückgezogen. Jetzt steht sie uns nicht mehr ohne Weiteres zur Verfügung. Das war mir in dieser Dimension nicht klar, bis ich Veetas Video-Reihe gesehen hatte. 

Geschichten über weibliche Unterdrückung

Die Gründe, warum Frauen in die innere Emigration gehen, fand ich potenziert in den dystopische Romanen Der Report der Magd (1985) und Die Zeuginnen (2019) der kanadischen Autorin Margaret Atwood. Ich hatte sie im Vorfeld von Veetas Video-Reihe gelesen. Sie faszinierten und erschütterten mich. Und sie lieferten mir eine Hintergrundgeschichte zur Video-Reihe. In den Büchern zeigt die Autorin drastisch, wie Frauen angesichts von massiver Unterdrückung in den Untergrund verschwinden. Manche von ihnen finden andere, verborgene Wege, um zu überleben. 

Am Beispiel eines religiösen Terrorregimes zeigt Margaret Atwood, wie Frauen durch Zwang und Gewalt ihrer Würde beraubt werden. „Gilead“ nennt sie den fiktiven Staat, der nach einer atomaren Verwüstung auf dem Gebiet der heutigen USA errichtet wird. Nach der Katastrophe büßen viele Frauen ihre Gebärfähigkeit ein. Bleibt eine Schwangerschaft aus, wird dem Haushalt eine gebärfähige Frau zugeteilt. Die einzige Aufgabe dieser sogenannten „Magd“ ist es, sich vom Hausherrn – „Kommandant“ genannt – schwängern zu lassen. Die Ausbildung der Mägde übernehmen die „Tanten“. Vergleichbar einem christlichen Orden werden junge Frauen von den Tanten im Rahmen einer religiösen Erziehung auf ihre zukünftige Aufgabe vorbereitet.

Indem Frauen begrenzte stereotype Rollen zugewiesen werden, wird ihr Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung mit Füßen getreten. Selbst die höher gestellten Ehefrauen sind in ihren Rollen gefangen. Jeder Versuch des Widerstands wird brutal geahndet. Zum Beispiel werden in einer öffentlichen Zeremonie „Ungehorsame“ zur Abschreckung vor aller Augen aufgehängt. Damit endet jede einzelne Frau innerhalb kürzester Zeit in der „inneren Emigration“ oder aber im Selbstmord. Diese von Misstrauen und Angst beherrschte Gesellschaft erzwingt bei den Menschen Duckmäusertum und Anpassungsbereitschaft.

Aus der Opferrolle ausbrechen

Trotz der unmenschlichen Umstände gibt es Frauen, die sich heimlich und unter Lebensgefahr solidarisieren. Die Magd „Desfred“ (nach Fred, ihrem Kommandanten genannt) schafft es, dem System zu entfliehen. Mit der Unterstützung ihres Geliebten setzt sie sich schließlich nach Kanada ab. Auch die Tanten nutzen ihre Freiräume und verschaffen sich recht skrupellos eigene Machtbefugnisse. Tante Lydia zum Beispiel. Sie begehrt im Hintergrund machtvoll und klug gegen den Staat auf und leitet letztendlich seinen Sturz in die Wege. Sie bereitet die Flucht von zwei jungen Anvertrauten nach Kanada vor, die schließlich erfolgreich Informationen für den Widerstand hinüber schmuggeln. Dafür wird sie einen hohen Preis bezahlen. Dennoch ein Hoffnungsschimmer … 

Die Zeit heilt keine Wunden

Die dargestellte Grausamkeit ist Teil unseres unbewussten Erbes als Frau. So oder ähnlich wurde mit Frauen an vielen Orten und zu unterschiedlichsten Zeiten umgegangen. Wenn Frauen eigenständige Wege gingen oder sich wehrten, wurden sie umerzogen oder landeten auf dem Scheiterhaufen. Doch Gewalt gegen Frauen und Unterdrückung finden auch heute noch statt – auch in unserer westlichen Welt. Veeta sagt: „Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist noch genauso wie vor einigen Tausend Jahren – nur etwas subtiler vielleicht“ (Teil 5: Bequeme Innenwelt-Lage).

Frau mit Pflaster auf dem Mund
Kislitsin Dmitrii/Shutterstock.com

Veeta zeigt in ihrer Video-Reihe, welche Folgen das hatte und wie sich solche Erfahrungen auf die weibliche Psyche ausgewirkt haben: Die tief eingeprägten Muster in uns modernen Frauen können wir trotz zahlreicher Errungenschaften und Freiheiten nicht abstreifen. Wir zeigen unsere Wut nicht offen, bringen uns nicht mehr kraftvoll ein, passen uns an. Die Demütigungen, Grausamkeiten und Kämpfe früherer Zeiten haben in unserer Seele Spuren hinterlassen. Veeta zeigt: „Heute führen unsere kraftvollsten Inneren Personen ein machtvolles Schattendasein in unserer Psyche“ (Folge 3: Die Schattenkönigin). Und damit in unserem Leben. Anstatt sich einzumischen, ergötzen sie sich von ihrem sicheren Platz aus am Schauspiel der Menschen. Und an einer Welt, die mittlerweile auf einen Abgrund zusteuert.

Warum das so ist, verstehe ich jetzt besser: Die ursprüngliche Kraft und das natürliche Wissen von Frauen haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Unsere machtvollen inneren Führerinnen – die Matriarchinnen – haben Strategien entwickelt, um sich nicht mehr offen ins Machtfeld der Männer begeben zu müssen. Diese reichen von Tarnung, Rückzug, Manipulation … bis hin zu lustvoller Rache. Anschaulich, prägnant und schonungslos ehrlich erläutert Veeta in ihrer beeindruckenden Reihe, wie Frauen nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen geworden sind. Diese Erkenntnis muss frau erstmal verarbeiten. Doch Veeta zeigt gleichzeitig Wege auf, wie wir diese verdrängten und ins Negative verkehrten Kräfte ins Bewusstsein holen können. Dann können sie sich ihrer selbst wieder bewusst werden und ihre verdrehte Weltsicht reflektieren.

Und wo stehe ich als Frau?

Die Abscheu und das Entsetzen darüber, was Frauen angetan wurde, hat in mir beim Lesen der Romane eine tiefe Erinnerung wachgerüttelt. Mit großer Unerschrockenheit und in subtilen Feinheiten schildert Atwood die tiefsten menschlichen Abgründe. Das ist als Leser*in nicht leicht zu verdauen. Mir ging es so, dass sich eine gewisse innere Distanz eingestellt hat und ich die wachgerufenen Bilder in ihrer ganzen Grausamkeit erst gar nicht an mich herangelassen habe. Denn sie rührten an meine eigene Erfahrung des Opferseins. Dass dabei aber auch meine eigene, indirekte Täterschaft berührt wurde – das habe ich erst nach und nach begriffen.

Meine indirekte Macht

Die Erkenntnisse aus Veeta Wittemanns Video-Reihe „Die Rückkehr der Königin“ haben mir auch im Hinblick auf meinen eigenen Entwicklungsprozess die Augen geöffnet. Ich habe erkannt, wie zerstörerisch meine eigene unterdrückte Macht in meinem Leben wirkt. Sie hat bereits zahlreiche Lebenspläne unterminiert und viele Menschen verletzt.

Natürlich sitze ich nicht im Kerker – ganz im Gegenteil. Äußerlich führe ich ein bequemes Leben mit vielen Möglichkeiten. Dennoch hat sich meine machtvolle innere Führerin zurückgezogen und zieht im Untergrund ihre Fäden. Sie gibt nichts Kraftvolles mehr in mein Leben hinein, statt dessen bedient sie sich indirekt bei anderen. Und sie wehrt alles Gute im Leben ab. Weil sie sich selbst nicht mehr freuen kann, sollen auch die anderen sich nicht mehr freuen können. In subtilen Aktionen streut sie Sand ins Getriebe des menschlichen Miteinanders.

Sie hatte einmal ein gutes, kultiviertes Leben in Fülle, das ihr gewaltsam genommen wurde. Soviel weiß ich schon von ihr. Noch einmal wird sie das nicht zulassen. Sie hütet ihre Schätze bis aufs Blut. So gut wie niemand bekommt sie mehr zu sehen. Wer ihr zu nahe kommt, wird mit einem vielfältigen, intelligenten Abwehrtanz konfrontiert, mit dem sie die Leute auf Abstand hält. Die Folge ist, dass sie nicht mehr frei unterscheiden kann, wer etwas Gutes von ihr verdient hätte und wer nicht. Sie steckt in ihrer selbstgewählten Isolation fest. Ich als Ganze scheitere daran, dass dieser machtvolle Wille sich aus meinem Leben heraushält.

Silberstreif am Horizont

Diese Erkenntnis ist für mich alles andere als angenehm, eröffnet jedoch eine neue Dimension in der Erforschung meiner Lebensproblematik. Nun geht es darum, ja zu meinem Nein zu sagen, in dem Wissen, dass ich ohne mein Zutun so geworden bin. Mich den unverarbeiteten Gefühlen meiner Herrscherin zuzuwenden bedeutet, die alte Geschichte loszulassen und mich auf meine inneren Schätze zu besinnen.

In „Weiber“-Kreisen mit anderen machtvollen Frauen lerne ich, wie wir uns gegenseitig unterstützen, fordern, stärken und feiern können. Dann kann ich vielleicht einmal meine ursprüngliche weibliche Autorität und meine stolze und freie Frau wieder positiv und kraftvoll ins Leben einbringen.

Drei Frauen feiern einen Erfolg
Jack Frog/Shutterstock.com

Ich will es jedenfalls versuchen! Und du? Ich finde, der Weg lohnt sich.

Veetas Video-Reihe ist eine wertvolle Möglichkeit, die Geschichte auch deiner Inneren Frauen zu erforschen und etwas über dich selbst herauszufinden. Wir im dubistviele-Blog freuen uns über deine eigenen Erfahrungen und Rückmeldungen dazu.

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